Ist die UNO ein zahnloser Tiger?
Vertreterinnen und Vertreter von 193 Staaten sitzen in einem riesigen Saal und diskutieren. Klingt langweilig? Mag sein, aber die UNO-Generalversammlung ist das einzige Gremium der Welt, in welcher alle Staaten auf Augenhöhe gemeinsam Lösungen für die drängendsten Probleme der Welt suchen und finden. Im Interview spricht Thomas Gürber, stellvertretender EDA-Staatssekretär und Chef der Abteilung UNO über die Rolle der Schweiz in der Generalversammlung.
Die UNO-Generalversammlung ist das einzige Gremium der Welt, in dem alle Staaten auf Augenhöhe miteinander sprechen. © Keystone
Die UNO-Generalversammlung tagt jedes Jahr von September bis September und wird jeweils während einer Woche von zahlreichen Staats- und Regierungschefs und –chefinnen aus der ganzen Welt eröffnet. Bundespräsident Alain Berset und Bundesrat Ignazio Cassis werden die Schweiz vom 18. bis am 20. September an der diesjährigen Eröffnungswoche vertreten. Die Schweiz ist der UNO 2002 per Volksabstimmung beigetreten. Im Gespräch mit Thomas Gürber, Chef der Abteilung UNO und stellvertretender EDA-Staatssekretär erfahren wir, was die Aufgaben der UNO-Generalversammlung sind und welche Rolle die Schweiz dabei einnimmt.
Thomas Gürber, was ist die UNO-Generalversammlung?
Die UNO-Generalversammlung ist die umfassendste Dialogplattform der Welt. Die 193 Mitgliedstaaten sind gleichberechtig und verfügen je über eine Stimme – ganz egal wie «gross» oder «klein» sie sind. Die Generalversammlung bietet deswegen eine einzigartige Möglichkeit, globale Herausforderungen wie Friedensförderung und –sicherung, Armutsbekämpfung, Achtung der Menschenrechte, humanitäre Hilfe, nachhaltige Entwicklung sowie die Bekämpfung des Klimawandels zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu finden.
Die Aufgaben der Generalversammlung sind breit gefächert. Sie genehmigt das Budget der UNO, beschliesst Resolutionen, die Staaten oder Konfliktparteien zu konkreten Massnahmen auffordern. Dabei ist zu beachten, dass Resolutionen der Generalversammlung im Gegensatz zu Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats völkerrechtlich nicht bindend sind. Sie haben jedoch ein hohes politisches Gewicht und können anzeigen, wie der «Puls» der Welt für ein bestimmtes Thema schlägt. So wurde zum Beispiel der russische Angriffskrieg in der Resolution vom 2. März 2022 mit 141 Ja-Stimmen klar und deutlich verurteilt.
Die UNO wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen um Frieden und Sicherheit in der Welt zu wahren. Nach wie vor ist die Menschheit konfrontiert mit Klimawandel, zunehmender Armut und zahlreichen ungelösten Konflikten. Ist die UNO ein zahnloser Tiger?
Gerade wegen den geopolitischen Spannungen und den anderen globalen Herausforderungen ist die UNO als Dialogplattform wichtiger denn je. Die Probleme, mit denen die Welt konfrontiert ist, brauchen grenzüberschreitende und koordinierte Lösungen. Um solche Lösungen zu finden, müssen alle Staaten miteinander sprechen, und dies schafft die UNO-Generalversammlung als einziges Gremium der Welt. Im Vergleich zu exklusiven Gremien wie der G7, der G20 oder der BRIC-Staatengruppe hat sie den Vorteil, dass sie universell ist und den globalen Süden sowie kleine und mittelgrosse Staaten einbezieht.
Die aktuellen weltpolitischen Herausforderungen bestehen trotz und nicht wegen der UNO. Gleichzeitig ist die Konsensfindung unter 193 Staaten natürlich herausfordernd und zeitintensiv. Die UNO ist nur ein Spiegelbild der Staaten, aus denen sie zusammengesetzt ist. Sie funktioniert nur dann, wenn die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit bereit sind. Manchmal können sich die Staaten nicht auf eine Lösung verständigen. Versuchen muss man es trotzdem. Immer wieder. Es gibt momentan keine vergleichbare Alternative, um die grossen Probleme unserer Zeit anzugehen.
Und welche Rolle spielt die Schweiz in der UNO-Generalversammlung?
Die Schweiz und die UNO verfolgen dieselben Ziele und setzen sich für die gleichen Werte ein: Kampf gegen die Armut, Achtung der Menschenrechte, Demokratie, friedliches Zusammenleben der Völker und Erhalt der natürlichen Ressourcen. Diese Ziele sind in der Bundesverfassung wie auch in der Charta der Vereinten Nationen verankert. Die UNO ist für die Schweiz daher ein zentrales Instrument zur Interessenswahrung und zum Erreichen ihrer aussenpolitischen Ziele. Die Schweiz nutzt die Generalversammlung, um aktiv Einfluss zu nehmen.
In ihrer Rolle als UNO-Mitgliedstaat und Gaststaat vieler internationaler Organisationen in Genf kann die Schweiz ihre Interessen und Werte auf globaler Ebene einbringen. Das tun wir seit dem Schweizer UNO-Beitritt auch in der Generalversammlung. In diesem Gremium ist die Schweiz oft eine treibende Kraft, die innovative Lösungen und Reformen anstösst oder unterstützt. So arbeitete sie beispielsweise mit anderen Staaten an einer Resolution, um die Verwaltung von Wasserressourcen zu verbessern. Das ist wichtig, weil Wasser für uns alle lebenswichtig ist und wir sicherstellen müssen, dass diese knappe Ressource für die Zukunft geschützt und fair verteilt wird. Die Resolution hat die anderen Staaten überzeugt, und sie ist ohne Abstimmung angenommen worden.
Welche Themen sind für die Schweiz in der kommenden 78. Session der UNO-Generalversammlung wichtig?
Die Schweiz wird in der kommenden 78. Session der UNO-Generalversammlung wie bisher eine aktive Rolle spielen und sich in UNO-Prozesse einbringen, die unseren Interessen entsprechen. Dabei werden wir ein breites Themenspektrum abdecken, darunter Frieden und Sicherheit, humanitäre Hilfe, Menschenrechte, Nachhaltigkeit, Umwelt und UNO-Reformen. Darüber hinaus gibt es gewisse Themenbereiche, etwa Finanzen und Steuern, in denen die Schweiz mit konkreten Vorschlägen sicherstellen will, dass bereits bestehende Strukturen und Diskussionen innerhalb der internationalen Finanzinstitutionen nicht dupliziert werden. Nachhaltigkeitsfragen und besonders der Agenda 2030 wird die Schweiz grosses Gewicht beimessen.
Leider sind die UNO-Mitgliedstaaten weit davon entfernt, die in der Agenda 2030 definierten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, obwohl die Halbzeit der vereinbarten Umsetzungsperiode bereits hinter uns liegt. Auch die Stärkung des Völkerrechts stellt einen wichtigen Schwerpunkt für die Schweiz dar. Das Völkerrecht gibt allen Staaten einen sicheren und klaren Rechtsrahmen vor und verhindert, dass das «Recht des Stärkeren» gilt. In einer Periode, in der das Völkerrecht und die Menschenrechte vielerorts verletzt werden und unter Beschuss geraten, gehört es zur Aufgabe der Schweiz, Rechtsverletzungen zu verurteilen und sich für den Respekt des Völkerrechts, einschliesslich des humanitären Völkerrechts einzusetzen. In all den oben erwähnten Themenfeldern bietet die UNO-Generalversammlung der Schweiz eine Bühne, um sich für einen wirksamen und zukunftsfähigen Multilateralismus einzusetzen.