Prävention von Gräueltaten in der Zukunft beginnt in der Gegenwart

Bundesrat Ignazio Cassis unterstreicht im Magazin «Politorbis» die Bedeutung der Antizipation in der Gräueltatenprävention. Der nachfolgende Text ist die lange Originalversion des im Magazin gekürzt publizierten Editorials. Die aktuelle Ausgabe ist die letzte Ausgabe des Magazins und widmet sich dem Thema Prävention von abscheulichen Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen.

Mauer des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen mit historischen Bildern und Informationstafeln an der Wand.

Die Geschichte nicht vergessen und gleichzeitig die Zukunft antizipieren, das sind wesentlich Bestandteile einer nachhaltigen Prävention (KZ Sachsenhausen). © Keystone

Wir sind Menschen. Wir lieben. Wir hassen. Wir teilen. Wir streiten. Menschen leben in Gruppen, definieren sich gleichwohl durch ihre Individualität. Wir identifizieren uns durch das, was uns von anderen abgrenzt. Das gilt für Individuen genauso wie für Staaten, religiöse Gemeinschaften und kulturelle Gruppierungen. Dieser fortlaufende Wettstreit ist Teil unseres evolutionären Erfolgs, er ermöglicht Höchstleistung und Innovation. Gleichzeitig treibt er uns trotz Aufklärung und technologischen Fortschritt zu infernalischen Gräueltaten – zu Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen.

Ob der Holocaust in Zeiten des Nationalsozialismus (1941–1945), der Khmer Rouge Genozid in Kambodscha (1975–1979) oder der Genozid von Srebrenica (1995) sie alle haben gemeinsam, dass ihnen Millionen von Menschen wegen kultureller oder religiöser Zugehörigkeiten zum Opfer gefallen sind.

Aus der Vergangenheit lernen

Obwohl seit Jahrtausenden Menschen mit erschreckender Selbstverständlichkeit andere Menschen töten, zeigt sich die internationale Gemeinschaft stets überrascht, ohnmächtig angesichts einer nicht antizipierten Gegenwart. Wenn wir solche Verbrechen verhindern wollen, müssen wir verstehen, wie es soweit kommen konnte. Die Schweiz hatte bis November den Vorsitz der internationalen Präventionsplattform Global Action Against Mass Atrocity Crimes (GAAMAC) inne.

Das Gründungsdokument aus dem Jahre 2013 erinnert uns daran, dass keine Gesellschaft gegen Gräueltaten immun ist, entsprechend beginnt Präventionsarbeit im eigenen Land. Ziel sind stabile Regierungen und starke, inklusive Gesellschaften, eine Auseinandersetzung mit sich selbst und seiner Geschichte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Genozide egal, ob sie wesens- oder situationsorientiert geschehen, nie über Nacht passieren. Die grauenvollen Morde und die Vertreibung tausender Menschen sind stets der blutige Höhepunkt einer langen Gewalt- und Konflikteskalation. 

Auf die Zukunft vorbereiten

Eine Frau kniet neben einem Gedenkstein auf dem Friedhof in Srebrenica.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist in der Prävention eine zentrale Rolle. Genauso wichtig ist der Blick in die Zukunft (Gedenkstein auf dem Friedhof in Srebrenica). © Keystone

Wenn wir zukünftige Eskalationen verhindern wollen, müssen wir heute handeln. Allerdings sind wir so sehr auf das Hier und Jetzt fokussiert, dass uns oft Zeit und Freiraum für den Fernblick fehlen. Wir interessieren uns für die Entwicklung des neustens Smartphones, vergessen dabei die Frage, inwieweit der technologische Fortschritt unsere Beziehungen verändert. Wie wir als konfliktgeprägte Gesellschaft die Werkzeuge des technologischen und wissenschaftlichen Fortschrittes für eine nachhaltige Entwicklung nutzen können, damit befasst sich die Geneva Science and Diplomacy Anticipator (GESDA).

Vor einem Jahr durch die Eidgenossenschaft und den Kanton und die Stadt Genf ins Leben gerufen, konzentriert sich die Stiftung auf die Entstehung von wissenschaftlichen Zukunftsthemen und Technologien sowie deren Rolle bei der Lösung globaler Herausforderungen. Ziel ist es, die Möglichkeiten der Zukunft zu nutzen, um die Gegenwart zu gestalten und so kommende Konfliktherde heute anzugehen.

Dabei geht es nicht um eine Vorhersage der Zukunft, sondern darum, unsere Gesellschaft bestmöglich auf diese vorzubereiten. Um über kurzfristige Widergutmachungsaktionen hinauszugehen, erfordert die Verhinderung von Gräueltaten eine antifragile Gesellschaft, die befähigt wird, mit unerwartenden Entwicklungen umzugehen.

Inklusion anstatt Exklusion

Allerdings ist die Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung längst nicht mehr mit der menschlichen Evolution vereinbar. Auf die industrielle Revolution folgt die digitale Revolution, die Interaktion und Handel auf Distanz ermöglicht. Mit der biologischen Revolution steht uns der nächste Quantensprung bevor: mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) und der Optimierung des Menschen in Bezug auf seine Umwelt nimmt die Innovation direkten Einfluss auf unser Sein.

Diese Konvergenz zwischen Wissenschaften und Technologie bietet Potenzial für die Evolution der Menschheit, birgt aber auch Gefahren. Es entstehen neue Konflikte und Erwartungen bezüglich sicherem Zugang zu Daten, personalisierter Medizin oder individueller Ressourcen.

Wollen wir das Konfliktpotenzial der Zukunft verringern, müssen wir in der Gegenwart Mechanismen schaffen, welche die fortschrittlichen Technologien in den Dienst einer integrativen Entwicklung stellen, die das soziale und wirtschaftliche Potenzial nicht nur reichen Ländern, sondern vielen Bevölkerungsgruppen in Form grosser Konvergenz ermöglicht.

Gemeinsam gegen das Vergessen

Mock-Up der aktuellen Ausgabe von «Politorbis», November 2020.
Die aktuelle Ausgabe von «Politorbis» geht der Frage nach, wie Gräueltaten zukünftig verhindert werden können. © EDA

Dieser Diskurs kann nicht innerhalb einzelner Landesgrenzen geführt werden, der Dialograum wird globaler. Nachhaltige Prävention stützt sich auf ein wirkungsvolles multilaterales System, das die friedliche Konfliktlösung priorisiert und auf dem Völkerrecht basiert. Die Schweiz kann mit ihrer humanitären Tradition, ihren guten Diensten, ihrer Führungsrolle in internationalen Gremien wie der GAAMAC aber auch mit Forschungsorganisationen wie der GESDA einen wichtigen Beitrag zur Prävention leisten.

Die vorliegende Ausgabe von «Politorbis» ist ihre finale Ausgabe. Sie ist eine Würdigung und eine Ermutigung für uns alle, die begonnene Arbeit weiterzuführen und die Prävention vor Ort Wirklichkeit werden zu lassen. Sie zeigt, wie Prävention auf interdisziplinärer Zusammenarbeit beruht, wie sich Kontexte von Gräueltaten entwickeln und verändern, und wieso es entscheidend ist, dass es uns gelingt, die Muster, die zu diesen Verbrechen führen, frühzeitig zu erkennen.

Dazu wird Antizipation entscheidend sein: nicht Antizipation ausschliesslich auf Grundlage der Vergangenheit, sondern adaptive Antizipation auf Grundlage der Kenntnis wissenschaftlicher Trends der Zukunft und der Diskussion ihrer Auswirkungen durch verschiedene Gemeinschaften mit unterschiedlichen Denkweisen. Wir müssen miteinander reden – heute, über die Themen von morgen! Ich freue mich, dieses Engagement und diesen Dialog fortzusetzen.

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