Politik und Statistik: den Status quo überdenken
Datenerhebung und Statistikproduktion haben sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelt. In der Covid-19-Pandemie sind aussagekräftige Indikatoren zur aktuellen weltweiten Entwicklung zentral, was laufende Anpassungen in diesem Fachgebiet erfordert. Doch wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen Politik und Statistik?
In Krisensituationen wird diese Beziehung stets enger. Welchen Einfluss hat dies auf die Arbeit der Statistikerinnen und Statistiker? © Keystone
Anfang 2020 wurde die Welt von einer ebenso unerwarteten wie heftigen Gesundheitskrise erschüttert. Diese veränderte den Alltag von Millionen Menschen auf der ganzen Welt einschneidend und stand am Anfang langer Monate voller Unsicherheiten und Einschränkungen. Die Pandemie brachte nicht nur unser Gesundheitssystem an seine Grenzen, sondern bremste auch die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung. Diese dramatische Realität und die Reaktionen darauf sind nur objektiv darstellbar, wenn sowohl qualitative Erhebungen (Programmanpassungen) als auch quantitative Messungen (Indikatoren, die diese Realität in Zahlen ausdrücken) vorhanden sind.
Aktuell wird eine ganze Flut von Zahlen veröffentlicht: So gibt es Indikatoren zur Zahl der Personen, die weltweit unter der Armutsgrenze leben oder unterernährt sind, zum Ausmass der Migration, zu den Treibhausgasemissionen, zur Jugendarbeitslosigkeit oder zur Berechnung der Lohn-, Alters- und Geschlechtergleichheit. All diese Zahlen sollen uns helfen, die Realität zu begreifen und Fakten liefern, auf die sich die Behörden für Entscheidungsprozesse stützen können. Statistikerinnen und Statistiker sind nicht die einzigen, die solche Indikatoren erstellen, sondern auch politische Entscheidungsträger lesen und analysieren häufig Zahlen, die als Rohmaterial für Statistiken verwendet werden.
Öffentliche, unabhängige und politisch neutrale Daten
Deshalb wird bei der Datenerhebung und bei der Statistikproduktion eine sehr präzise Methodik angewendet, die eine optimale Objektivität gewährleisten soll. «Unsere Arbeiten und die daraus resultierenden Ergebnisse sind ein öffentliches Gut», erklärt André de Montmollin, Statistiker beim Bundesamt für Statistik. Sie unterliegen einer Veröffentlichungspflicht, unabhängig davon, was sie aussagen. Das BFS ist in diesem Sinne ein neutrales, unabhängiges Amt.»
Als öffentliches Gut muss die Erstellung von Statistiken vollkommen unabhängig von der politischen Agenda erfolgen. Ihre Weiterentwicklung ist rein wissenschaftlich begründet und die Ergebnisse sind frei zugänglich, abgesehen von persönlichen Daten, die unter den Datenschutz fallen. Und dennoch sind in gewissen Situationen und namentlich im Bereich der Digitalisierung diese beiden Welten – Politik und Statistik – so eng verwoben, dass sich die Frage stellt, wie sich dieses Verhältnis in der Zukunft entwickeln wird.
Diskrepanz zwischen politischen Forderungen und statistischer Genauigkeit
Die enge Beziehung zwischen Politik und Statistik wandelt sich stetig. Dies ist auch der Grund dafür, dass das BFS und das EDA gemeinsam das World Data Forum organisieren, das vom 3. bis zum 6. Oktober 2021 in hybrider Form stattfinden wird. Ziel des Forums ist es, die neuen Herausforderungen aufzuzeigen, mit denen die Statistikämter in der Schweiz und weltweit konfrontiert sind: Finanzierung der Daten, Krisenbewältigung und Chancen der Digitalisierung. In diesen Bereichen existiert eine immer grössere Diskrepanz zwischen den Forderungen der Politik und den Voraussetzungen, die für qualitativ hochstehende Statistiken notwendig sind.
«Wir haben beobachtet, dass es verschiedenen Ämtern nicht gelang, im Krisenumfeld Statistiken zu erstellen», bestätigt Benjamin Rothen, Chef der Sektion internationale und nationale Angelegenheiten beim BFS. «Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir den Bedürfnissen der Politik mit unseren Statistiken gerecht werden können und welche neuen Tools wir dazu schaffen müssen.» Ein Thema, das gemäss Benjamin Rothen in Angriff genommen werden sollte, betrifft die Forderung der Politik nach verstärkter Digitalisierung und der Erstellung von Metadatenkatalogen, d. h. Plattformen, mit denen vorhandene Daten leichter zu finden sind.
Konkret sollten in der Schweiz alle von Bundesämtern produzierten Daten in einem einzigen Katalog auffindbar sein, zum Beispiel die Daten der Bundesämter für Gesundheit, für Energie oder für Informatik und Telekommunikation. «Dazu müssen wir müssen verstehen, wie die Daten der Bundesverwaltung verwendet werden können. Bei einer solchen Neuausrichtung müssten wir aber auch darüber nachdenken, wie solche Plattformen finanziert würden.»
Auch der Privatsektor ist gefragt
Die Verlagerung des Fokus von Statistiken hin zu Daten ist ein Trend, der aktuell immer mehr an Bedeutung gewinnt. Konkret müssen wir deshalb verstehen, welche Daten zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbar sind und wie sie rationeller und schneller erhoben werden können. Der Privatsektor spielt dabei seit einigen Jahren – und insbesondere in Krisenzeiten – ebenfalls eine wichtige Rolle.
«In bestimmten Bereichen existieren Daten, die von multinationalen Unternehmen erhoben wurden», erklärt Benjamin Rothen. «In gewissen Ländern haben diese Grossunternehmen die Möglichkeit, Daten zu erheben, die auch für die öffentliche Statistikproduktion des Staates von Nutzen wären. Sie ersetzen die offiziellen Statistiken nicht, ergänzen sie aber häufig.» Hier stellt sich allerdings die Frage nach der Unabhängigkeit und der Kostenlosigkeit dieser Daten, selbst wenn gewisse multinationale Unternehmen, wie Benjamin Rothen betont, solche Daten für Regierungen, NGO und Hochschulen kostenlos zur Verfügung stellen. Die vielfältigen Beziehungen zwischen Privatsektor, Politik und Statistikämtern sind deshalb sorgfältig zu prüfen. Diese Beziehungen sind nicht neu, sie erfordern jedoch eine engere Zusammenarbeit zwischen den drei Akteuren.
Besseres Verständnis der statistischen Daten im Fokus des World Development Report 2021
Mit der Covid-19-Krise stellen sich neue Fragen zum Nutzen und zur Verwendung statistischer Daten in einer globalisierten Welt. In der Forschung zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung haben die von den Statistikämtern weltweit produzierten Daten ein enormes Einflusspotenzial. Doch welche neuen Herausforderungen hat die Covid-19-Krise in diesem Bereich hervorgebracht, und wo liegen in Zukunft die Hauptrisiken bei der Statistikproduktion?
Die Weltbank stellt in einem neuen Bericht die Beziehung der Menschen zu statistischen Daten in den Mittelpunkt. Am 14. September 2021 hat sie gemeinsam mit der DEZA ein virtuelles Event unter dem Titel «Leveraging the power of data for better lives: World Development Report 2021» organisiert, an dem sie für einen neuen Gesellschaftsvertrag im internationalen Kontext eintrat. Dieser Vorschlag ist auch Hauptthema eines Online-Kursangebots (Massive Open Online Course, MOOC), das auf dem Bericht basiert.