Die humanitäre Hauptstadt Genf aus der Sicht der Schweizer Vertretung bei der UNO

Ob Hauptstadt des Multilateralismus und der Gesundheit oder Innovationshub: Genf hat zahlreiche Rollen. Der Konflikt in der Ukraine hat die Bedeutung Genfs auch als Hauptstadt der humanitären Hilfe bestätigt. Anne de Riedmatten, Chefin der Sektion Humanitäre Angelegenheiten der Schweizer Mission, erklärt uns dieses einzigartige Ökosystem.

Die Flaggen der Mitgliedstaaten werden vor dem Palais des Nations in Genf gehisst.

Im Herzen des Multilateralismus. Die Mission setzt sich für die Interessen der Schweiz in internationalen Organisationen ein. © UN Photo by Violaine Martin

Frau de Riedmatten, wie würden Sie die Rolle Genfs im internationalen Kontext definieren?

Genf ist als eines der grossen Zentren des Multilateralismus bekannt. Die Herausforderungen unserer Zeit können nur Palette an Erfahrung und Know-how, wodurch innovative Lösungen zur Bewältigung dieser Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft entstehen. Dies hat sich auch in jüngster Zeit gezeigt: Die Covid-19-Pandemie bestätigte die Position Genfs als Gesundheitshauptstadt, in der wichtige Akteure des Gesundheitswesens wie Weltgesundheitsorganisation, Globaler Fonds und GAVI vertreten sind, die dank der physischen Nähe effizient zusammenarbeiten können. Der Konflikt in der Ukraine hat die Bedeutung des internationalen Genf für humanitäre Belange und das humanitäre Engagement bestätigt. Genf ist ein Zentrum des Austauschs, der Partnerschaften und der Innovation, das täglich auf neue Herausforderungen reagiert, sei es Krisen, Klimawandel oder Digitalisierung.

Welche Rolle spielt die Schweizer Mission im internationalen Genf?

Die Rolle und die Präsenz der Mission in Genf betrifft zwei Ebenen: Als Gaststaat ist es zunächst einmal wichtig, dass wir die in Genf tätigen internationalen Organisationen betreuen und ihnen gute Bedingungen bieten. Als Mitgliedstaat sind wir dagegen bestrebt, die Interessen der Schweiz in diesen Organisationen zu vertreten. Unsere Politik ist vom Dialog gekennzeichnet. In diesem Sinne bemüht sich die Mission, vielfältige und innovative Partnerschaften zwischen den verschiedenen Akteuren zu fördern, von staatlichen Stellen über den Privatsektor bis hin zu den NGO.

Die Herausforderungen unserer Zeit können nur global und multidisziplinär gelöst werden. Genf verfügt über eine breite Palette an Erfahrung und Know-how, wodurch innovative Lösungen zur Bewältigung dieser Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft entstehen.
Anne de Riedmatten

Wie arbeitet Ihre Sektion mit den humanitären Organisationen zusammen? Können Sie uns einige Beispiele geben?

Im humanitären Bereich spielt die Sektion eine zentrale Rolle bei verschiedenen Anlässen, die in oder von Genf aus organisiert werden. Ein Beispiel ist etwa die Geberkonferenz zur humanitären Krise im Jemen, die vor Kurzem gemeinsam mit Schweden und dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) im Hybridformat durchgeführt wurde: Zuerst mussten die Traktanden des Treffens definiert, die Repräsentativität der betroffenen Parteien einschliesslich der lokalen Akteure sichergestellt und die beteiligten Staaten zu namhaften finanziellen Beiträgen aufgerufen werden.

Ein weiteres Beispiel für die treibende Kraft Genfs ist das 2016 geschaffene Kompetenzzentrum für humanitäre Verhandlungen, das wir zusammen mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), dem Welternährungsprogramm, Médecins Sans Frontières Schweiz und dem Zentrum für humanitären Dialog aktiv unterstützt haben. Dank dieser mittlerweile etablierten Initiative können verschiedene Schlüsselakteure des humanitären Genf ihr Fachwissen zu einem zentralen Thema austauschen, nämlich der Gewährleistung des Zugangs zu den von einem Konflikt am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen.

Was bedeutet es, die Interessen der Schweiz bei humanitären Organisationen zu vertreten?

Die Sektion vertritt die Schweiz beispielsweise in den Leitungsgremien der humanitären Partnerorganisationen wie UNHCR, IKRK oder Internationale Organisation für Migration. Auf diese Weise stellt sie sicher, dass das Finanzmanagement solide ist und die Mittel so effektiv und effizient wie möglich eingesetzt werden.

Die Sektion pflegt zudem einen privilegierten Dialog mit ihren Partnern in Genf, damit sie deren Herausforderungen versteht und Lösungen anbieten kann, die es ihnen erlauben, die Bedürfnisse der Bevölkerung weiterhin angemessen zu erfüllen. Die humanitären Organisationen müssen zum Beispiel ihre Programme anpassen, um den CO2-Fussabdruck ihrer Aktivitäten zu begrenzen. Die Schweiz wollte ein starkes politisches Zeichen zur Unterstützung dieser Reformen setzen und sponserte als erstes Land die Klima- und Umweltcharta für humanitäre Organisationen, die von Akteuren der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung lanciert worden war. Später leistete die Schweiz einen Beitrag an einen Fonds, den das IKRK zur Umsetzung der in der Charta verankerten Ziele einrichtete.

 Verladen eines Zuges zur Vorbereitung einer Lieferung von humanitären Hilfsgütern aus der Schweiz.
Genf wird als Hauptstadt des Friedens bezeichnet und ist ein wichtiges Zentrum der internationalen humanitären Zusammenarbeit. © EDA

Mit der Verabschiedung der Strategie Digitalaussenpolitik anerkennt die Schweiz die digitalen Technologien als vorrangiges Thema. Ist die Digitalisierung auch bei der humanitären Arbeit ein Schwerpunkt?

Die Digitalisierung birgt sowohl neue Chancen als auch neue Herausforderungen für das humanitäre Engagement. Mobiltelefone ermöglichen es zum Beispiel Familien, die durch Konflikte oder Naturkatastrophen getrennt wurden, in Kontakt zu bleiben oder sich wiederzufinden. In solchen Fällen sind neue Technologien also sehr nützlich. Aber es gibt auch Risiken, wie der Cyberangriff zeigt, von dem das IKRK vor Kurzem betroffen war. Datendiebstahl ist eine Gefahr für die Personen, um die sich das IKRK kümmert, das heisst für Menschen, die äusserst verletzlich, vor Konflikten geflohen oder inhaftiert sind.

Bei der Suche nach Lösungen können die Partner auf Schweizer Fachwissen zurückgreifen. Ein gutes Beispiel ist die Zusammenarbeit zwischen dem IKRK und dem EssentialTech Centre der ETH Lausanne bei der Entwicklung von digitalen Lösungen, die es erlauben, humanitäre Daten zu schützen und die Folgen von Hassreden gegen Hilfsorganisationen in den sozialen Netzwerken zu begrenzen.

Eine Mission, zwei Rollen

Die Schweizer Mission in Genf hat eine doppelte Rolle: Einerseits vertritt die Multilaterale Abteilung in enger Zusammenarbeit mit der EDA-Zentrale in Bern die Interessen der Schweiz bei den internationalen Organisationen und Institutionen, die im Herzen des internationalen Genf vertreten sind. Die Förderung eines starken und effizienten Multilateralismus ist eine ihrer Prioritäten. Andererseits trägt die Abteilung Gaststaat dazu bei, Genf als Zentrum der globalen Gouvernanz zu stärken, indem sie die Entwicklung der Aufnahme- und Arbeitsbedingungen für die internationale Gemeinschaft fördert.

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