Haiti: Wirbelsturm, Überschwemmungen und lebensrettende Prävention

Haiti ist gegenüber extremen Klimaereignissen stark exponiert. Im August 2020 wurde das Land vom Tropensturm Laura heimgesucht, der grosse Schäden verursachte und zahlreiche Opfer forderte. Die DEZA führt in Jacmel im Südosten der Insel ein Projekt zur Minderung von Katastrophenrisiken durch. Das Interview mit einer am Projekt beteiligten Expertin des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe.

Menschen arbeiten am Bau einer Steinwand, um das Wasser zu kanalisieren.

2018 unterstützte das SKH den Bau von Gabionen im Distrikt K-Dougé, in dem etwa 100 gefährdete Familien leben. © EDA

Constance Jaillet ist Hydrogeologin und Ingenieurin für Wasserwissenschaft und ‑technik. Sie arbeitet seit 2017 beim Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe. Seit 2018 engagiert sie sich in Haiti für ein Projekt der DEZA im Bereich Minderung von Katastrophenrisiken.

Portrait von Constance Jaillet.
Während ihrer drei Jahre in Haiti hat Constance Jaillet gelernt, wie wichtig langfristiges Handeln für die Risikoprävention ist und nicht nur für den Kriseneinsatz. © EDA

Constance Jaillet, wie haben Sie auf den Aufzug des Wirbelsturms Laura in Haiti reagiert?

Constance Jaillet: Relativ gelassen; solche Phänomene kommen in Haiti häufig vor. Die Hurrikansaison dauert von Juni bis November, und wir verfolgen die Wettervorhersagen. Dieses Jahr herrscht über dem Atlantik eine starke Zyklonaktivität. Wir haben die Entwicklung des Tropensturms Laura während drei Tagen beobachtet. Die Zugbahn verlief nördlich der Küste Haitis. In der Nacht von Freitag auf Samstag änderte sich die Bahn plötzlich. Schliesslich ging Laura mit Sturzregen über ganz Haiti nieder. 

Wo waren Sie am Sonntag, dem 23. August 2020, als der Sturm die Insel erreichte?

Ich war zu Hause in Jacmel, im Südosten Haitis. Der Sturm wütete die ganze Nacht und den ganzen Vormittag. Ich wartete, bis er vorbeigezogen war. Erst am Nachmittag konnten wir das Ausmass der Schäden feststellen. Die Katastrophe forderte im südöstlichen Departement über 20 Opfer. Zahlreiche Häuser wurden überschwemmt, Brücken weggerissen und Strassen abgeschnitten. Die schlimmsten Schäden gab es in der Nähe der Flüsse Jacmel und Gaillard in Cayes-Jacmel, wo die Regenfälle zu heftigem Hochwasser führten.   

Mehrere Personen, die gelbe Sicherheitswesten tragen, bauen mit Steinen neu Gabionen.
Dank der errichteten Gabionen wurde die K-Rock National School beim letzten Unwetter verschont und mehr als 260 Schüler konnten am Unterricht teilnehmen. © EDA

Die DEZA führt vor Ort ein Projekt zur Minderung der Risiken solcher Naturereignisse durch. Worum geht es dabei? 

Die DEZA hat im Jahr 2014 in Jacmel ein Projekt zur Minderung von Katastrophenrisiken lanciert. Damit soll das lokale Krisenmanagement verbessert werden. Das Projekt stützt sich auf die Kompetenzen der haitianischen Expertinnen und Experten im ganzen Land. In Jacmel haben Mitglieder des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) die haitianischen Fachleute dabei unterstützt, Gefahrenkarten für Erdrutsche und Überschwemmungen zu erstellen. Auf dieser Grundlage konnten wir mit den Gemeinschaften und den lokalen Behörden zusammenarbeiten. Wir haben die Präventionsmassnahmen, die zur Risikominderung getroffen werden müssen, definiert und priorisiert. 

Worin bestehen diese Massnahmen konkret?

2018 haben wir geholfen, an zwei Orten, die für die Gemeinschaft prioritär sind, Schutzbauten aus Drahtschotterkörben (Gabionen) herzustellen: bei der nationalen Schule K-Rock mit über 260 Schülerinnen und Schülern und im Quartier K-Dougé, wo etwa hundert benachteiligte Familien leben. Die Schule dient auch als provisorische Zivilschutzunterkunft. Beide Orte liegen im Böschungsgebiet des Flusses Orangers und sind stark hochwassergefährdet. Mit Unterstützung der NGO ACDED sowie von Ingenieuren und lokalen technischen Ausbildnern haben wir auf einer Länge von 100 Metern fünf Meter hohe Schutzbauten errichtet. 

Videoaufnahmen während des Sturms Laura
An den Seiten einer unbefestigten Strasse werden Steinbauten errichtet.
Der Sturm Laura diente als erster Test: Die Schutzbauten im Bezirk K-Dougé hielten den hohen und ständig steigenden Wasserständen stand. © EDA

Der Sturm Laura war eine Prüfung – bestanden oder nicht? 

Die Schutzbauten haben den enormen Wassermassen standgehalten. Wir waren sehr erleichtert und zufrieden, dass die Schule K-Rock und die Gemeinschaft von K-Dougé verschont blieben. Die Schülerinnen und Schüler konnten den Unterricht wieder aufnehmen. Ohne die Gabionen hätte diesen Familien ein ganz anderes Schicksal gedroht. Die lokale Gemeinschaft weiss dies, und die im Vorfeld geleistete Arbeit ist für sie glaubwürdiger geworden.   

Die Schule hat der Belastung standgehalten, aber anderswo sind Opfer und Zerstörungen zu beklagen. Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf? 

Der abrupte Richtungswechsel der Zugbahn hat alle überrascht, so dass die Sturmwarnungen zu spät herausgegeben wurden. Folglich mussten die Evakuierungen mit ungenügender Vorbereitung mitten im Sturm durchgeführt werden. Dadurch hat sich die Schadensbilanz verschlimmert. Allerdings ist das bemerkenswerte Engagement des lokalen Zivilschutzes zu erwähnen, der sofort reagierte, um den Überlebenden der Katastrophe zu helfen.

Constance Jaillet steht mit Papiern in der Hand unter Bäumen und spricht mit lokalen Personen.
Die lokale Gemeinschaft spielt bei der Umsetzung von Projekten eine zentrale Rolle. Sie kennen die am stärksten betroffenen Gebiete und können Prioritäten setzen. © EDA

Welche Rolle spielt die lokale Gemeinschaft in diesem Projekt?

Sie spielt eine sehr aktive Rolle. Wir haben die Bewohnerinnen und Bewohner von Jacmel seit Projektbeginn im Jahr 2014 einbezogen. Sie haben auf der Basis der Gefahrenkarte die Orte ausgewählt, an denen prioritär Schutzbauten errichtet oder verstärkt werden sollten. Mehrere Personen erhielten eine Schulung zum Thema Drahtschotterbauweise und nahmen anschliessend an bezahlten Arbeiten teil. Die Schulung und die Schaffung von Arbeitsplätzen für benachteiligte Personen sind wichtige Aspekte. Das Projekt hat für die Schule K-Rock auch einen Beitrag zur Bildungsförderung geleistet. 

Sie arbeiten nun seit drei Jahren in Haiti. Was haben Sie bis jetzt gelernt? 

Die wichtigste Lektion lautet für mich, dass es in Haiti trotz der sehr schwachen Institutionen durchaus möglich ist, Mechanismen für ein lokales Risikomanagement aufzubauen. Wir können dabei auf die dynamischen Organisationen der Zivilgesellschaft zählen. Der Wirbelsturm Laura hat auch bewiesen, dass es sinnvoll ist, nicht nur auf Vorbereitung und Reaktion, sondern auch auf die Prävention zu setzen. Diese Arbeit erfordert Zeit, zahlt sich aber langfristig aus. 

Ich habe in diesen drei Jahren gelernt, dass man sich in Haiti Zeit nehmen muss, um mit den verschiedensten Menschen ins Gespräch zu kommen: mit der Händlerin an der Strassenecke, dem Wachmann, dem Arbeiter, dem Ingenieur usw. Auf diese Weise gewinnt man Einblicke in die komplexen Verhältnisse des Landes und kann versuchen, den Menschen zu helfen, die richtigen Lösungen für die gewünschten Veränderungen zu finden.

Humanitäre Hilfe der Schweiz

Die Humanitäre Hilfe des Bundes setzt sich vor, während und nach Konflikten, Krisen und Naturkatastrophen für die Interessen von schutzbedürftigen Menschen ein. Dabei konzentriert sie sich auf folgende Bereiche: Wiederaufbau und Rehabilitation der betroffenen Gebiete, Katastrophenvorsorge, Schutz von verletzlichen Personen und Nothilfe. Die Humanitäre Hilfe gehört zur Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und ist Teil des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

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