«Die Schweiz muss an Tempo zulegen, um die Ziele der Agenda 2030 zu erreichen»

Die Schweiz hat am 12. Juli 2022 den UNO Mitgliedstaaten in New York ihren zweiten Länderbericht zum Stand der Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung präsentiert. Jacques Ducrest, Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030, sieht die Schweiz auf Kurs – doch müsse sie an Tempo zulegen, will sie die Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 erreichen. Mehr zum Thema im Interview.

18.07.2022
EDA
Im Vordergrund drei Exemplare des Länderberichts in verschiedenen Sprachen. Im Hintergrund das Bundeshaus.

Die Schweiz hat sich politisch verpflichtet, die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung umzusetzen. © EDA

Nahaufnahme von Jacques Ducrest während der Präsentation in New York.
Jacques Ducrest, Delegierter des Bundesrates für die Agenda 2030. © Photo by IISD/ENB | Kiara Worth

Jacques Ducrest, vor vier Jahren hat die Schweiz ihren ersten Länderbericht präsentiert. Können Sie uns konkrete Beispiele für Fortschritte nennen?

Der Frauenanteil im Nationalrat, der seit 2015 von 32% auf 42% gestiegen ist, kann als wichtiger Fortschritt bezüglich Gleichstellung von Frauen und Männern gewertet werden. Ebenso konnte die Schweiz gute Fortschritte in der Entwicklung der erneuerbaren Energien sowie der Steigerung der Energieeffizienz verzeichnen. Der Stromverbrauch pro Person nimmt in der Schweiz insgesamt ab. Das sind gute Neuigkeiten, gerade auch im Hinblick auf das Ziel SDG 7 «Bezahlbare und saubere Energie». Gleichzeitig verdeutlicht aber die geopolitische Situation mit dem Krieg in der Ukraine unsere globalen Abhängigkeiten im Energiebereich und zeigt, die wichtig es ist, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. 

Was hat die Schweiz unternommen, um die Ziele der Agenda 2030 zu erreichen?

Der Bundesrat hat die Agenda 2030 vorangetrieben, indem er sie in einer neuen Organisationsstruktur verankert hat. Vertreterinnen und Vertreter aus allen Departementen und der Bundeskanzlei waren und sind beteiligt. Die Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 wie auch der Länderbericht 2022 wurden breitabgestützt erarbeitet. Im dezentralisierten politischen System der Schweiz bedeutet diese transversale Verankerung einen wesentlichen Fortschritt.

Strukturell hat mit der Verabschiedung der Agenda 2030 ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Der Gedanke der Universalität der Agenda 2030, das heisst, dass alle Länder der Welt – aus dem globalen Süden ebenso wie aus dem globalen Norden – zu ihrer Umsetzung beitragen, ist definitiv auch in der Schweiz angekommen. 

Die Schweiz hat ihren Länderbericht zur Umsetzung der Agenda 2030 am Hochrangigen Politischen Forum für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen vorgestellt.

Für den Länderbericht wurden viele Schweizer Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, NGOs, Kantonen und Gemeinden einbezogen. Wer ist besonders prädestiniert, um bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung mitzumachen – und in welchen Bereichen vor allem?

Die Agenda 2030 ist ein gesamtgesellschaftliches Vorhaben. Wir alle tragen bereits dazu bei, indem wir beispielsweise unseren Abfall trennen, uns in der Nachbarschaftshilfe engagieren oder mit unseren Kindern die Diskussion zum Umgang mit den natürlichen Ressourcen suchen.

Es braucht jedoch nicht nur diese individuellen Engagements und Entscheidungen, vielmehr müssen vor allem der Bund, die Kantone und die Gemeinden sowie auch beispielsweise Unternehmen die richtigen Bedingungen schaffen, um diese Entscheidungen zu ermöglichen. Für eine ganzheitliche Umsetzung braucht es eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Akteuren und eine sorgfältige Abwägung aller Interessen der Gesellschaft.

Welche Vorkehrungen hat der Bund getroffen, um diese notwendige enge Zusammenarbeit zu fördern?

Um zu veranschaulichen, wie vielfältig das Schweizer Engagement in der nachhaltigen Entwicklung ist, hat der Bund letztes Jahr eine breitangelegte Bestandsaufnahme durchgeführt, an der neben der Bundesverwaltung auch Kantone und Gemeinden sowie Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft mitwirken konnten. Die Ergebnisse sind auf der neuen Webseite www.SDGital2030.ch publiziert. Sie verdeutlichen, dass man sich auch nicht überall einig ist.

Die Aktivitäten von zivilgesellschaftlichen Organisationen sind dabei gleichermassen aufgelistet wie Massnahmen des Bundes. Indem die verschiedenen Engagements sichtbar gemacht werden, sollen die Gemeinsamkeiten aufgezeigt und die Vernetzung in den verschiedenen Themengebieten ermöglicht werden. Alle interessierten Organisationen können auf der Plattform «SDGital2030» weiterhin mitwirken. 

Gruppenbild in New York mit Jacques Ducrest und andere EDA Mitarbeitende.
Jacques Ducrest (links) hat mit einer Delegation aus Vertretenden des EDA sowie weiterer Bundesstellen, der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Gemeinden am internationalen Treffen in New York teilgenommen. © EDA

Die Schweiz muss gemäss Länderbericht noch an Tempo zulegen, um die Ziele der Agenda 2030 zu erreichen. Welche Bereiche stehen hier im Vordergrund?

Der Bundesrat setzt in seiner Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030 drei Prioritäten: nachhaltiger Konsum und nachhaltige Produktion; Klima, Energie und Biodiversität; sowie Förderung von Chancengleichheit und sozialem Zusammenhalt.

Nehmen wir den ersten Bereich als Beispiel. Die Konsum- und Produktionsmuster von Industrieländern wie der Schweiz basieren auf hohem Ressourcenverbrauch. Ein hohes Pro-Kopf-Einkommen bedeutet, dass sich die Einwohnerinnen und Einwohner mehr Produkte leisten können und gleichzeitig auch mehr verschwenden. Wenn alle Menschen so konsumieren würden wie die Schweizerinnen und Schweizer, bräuchten wir fast drei Planeten, um unsere Bedürfnisse zu decken.

Auch hier können individuelle Entscheidungen wesentlich zur Veränderung beitragen: Wir können zum Beispiel mehr lokale Produkte konsumieren und über unsere wirklichen Bedürfnisse nachdenken. Müssen wir unbedingt mehr besitzen oder sollte das, was wir besitzen, nachhaltiger sein? Es sind einerseits die «kleinen» Dinge, die einen Unterschied machen können. Anderseits bergen Wirtschaft und Finanzwesen grosse Veränderungspotenziale. Wir stellen fest, dass Nachhaltigkeit zunehmend als integraler Bestandteil des Geschäftsmodells verstanden wird – bei Kundinnen und Kunden sowie bei den Unternehmen. 

Die Schweiz war 2016 (gefolgt von 2018) eines der ersten Länder überhaupt, das einen Länderbericht präsentiert hat. Wo steht die Umsetzung der Agenda 2030 heute?

Der Optimismus, der 2015 bei der Verabschiedung der Agenda 2030 vorherrschte, ist einer gewissen Ernüchterung gewichen. Die Welt ist mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, welche das globale Erreichen der Ziele und das Umsetzen der Agenda 2030 erschweren.

Die anhaltende Covid-19 Pandemie hat mehr als vier Jahre des Fortschritts in der Armutsbekämpfung zunichte gemacht. Heute leben 93 Millionen Menschen mehr in extremer Armut als vor der Pandemie. Schätzungsweise 147 Millionen Kinder verpassten in den vergangenen zwei Jahren mehr als die Hälfte des Schulunterrichts. Frauen sind zudem unverhältnismässig stark von den sozioökonomischen Folgen der Pandemie betroffen, beispielsweise durch die zunehmenden Belastungen durch unbezahlte Betreuungsarbeit.

Um sich von der Covid-19-Pandemie zu erholen und die globalen Nachhaltigkeitsziele doch noch zu erreichen, braucht es nun grosse Anstrengungen der Weltgemeinschaft. Zudem muss der politische Wille bekräftigt werden, die Ziele gemeinsam bis 2030 erreichen zu wollen – und dabei niemanden zurückzulassen.

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