«Das Recht der Mächtigen ist heute stärker als vor 20 Jahren»
Der Bundesrat hat am 12. August 2020 einen freiwilligen Bericht zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts durch die Schweiz verabschiedet. Im Interview mit Le Temps und CH Media unterstreicht Bundesrat Ignazio Cassis die Wichtigkeit eines solchen Berichtes und erklärt, wieso die Schweiz mit gutem Beispiel vorangeht.
Ignazio Cassis spricht im Interview mit Le Temps und CH Media über den freiwilligen Bericht zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts durch die Schweiz. © EDA
Die Weltordnung ist labiler geworden und Konflikte nehmen zu. In vielen Fällen handelt es sich nicht um klassische Auseinandersetzungen zwischen zwei Ländern, sondern um Konflikte zwischen nichtstaatlichen Gruppierungen, die unabhängig von staatlichen Grenzen stattfinden können. Dem humanitären Völkerrecht kommt in diesem schwierigen internationalen Umfeld eine immer grössere Bedeutung zu.
Im Rahmen zweier Interviews mit Le Temps und CH Media spricht sich Bundesrat Cassis für die Stärkung des humanitären Völkerrechts aus. Er betont, dass ein Bericht, wie der vorliegende freiwillige Bericht der Schweiz, den zwischenstaatlichen Austausch über gute Praktiken und die notwendigen Massnahmen für eine wirksame Umsetzung fördert. «Wenn wir Schwarz auf Weiss etwas schreiben, dann machen wir Ordnung im Kopf und in den Absichten. Wir hoffen, dass wir damit andere Länder inspirieren. Wir wollen der internationalen Gemeinschaft ein starkes Signal geben, dass die Schweiz weiterhin fest an das humanitäre Völkerrecht glaubt, auch wenn es immer schwieriger wird, es durchzusetzen», erklärt Ignazio Cassis.
Schweiz geht mit gutem Beispiel voran
Der freiwillige Bericht zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts geht auf die Internationale Konferenz des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds im Dezember 2019 in Genf zurück. «Wir hätten gerne ein Verfahren für die nationale Berichterstattung über die Umsetzung des humanitären Völkerrechts eingeführt. Mehrere Staaten waren aber nicht bereit, sich an einer solchen Übung zu beteiligen», erläutert Bundesrat Cassis.
Deshalb hat die Schweiz entschieden, mit gutem Beispiel voranzugehen und einen freiwilligen Bericht zu publizieren. «Damit das Signal rüberkommt, habe ich den Bericht dem Bundesrat vorgelegt. Ich wollte dem Bericht politische Bedeutung beimessen. Ich wollte keinen technischen Bericht, sondern ich wollte, dass der Bundesrat als Kollegium die Verantwortung dafür übernimmt, denn die Einhaltung des humanitären Völkerrechts ist eine Priorität für den Bund», betont Ignazio Cassis.
Abschaffung von Atomwaffen bleibt ein wichtiges Ziel
Gerade für ein kleines Land wie die Schweiz ist eine stabile Weltordnung von hoher Bedeutung, entsprechend gross ist ihr Interesse an klaren Regeln. «Die grösseren Staaten mit starken Armeen sind auf diese Regeln weniger angewiesen. Das Recht der Mächtigen ist heute stärker als vor 20 Jahren. Die Welt ist labiler geworden, weil die grossen Staaten ihre Machtansprüche durchsetzen», erklärt Bundesrat Cassis.
Im Geiste des humanitären Völkerrechts und klarer internationaler Regeln steht auch das UNO-Abkommen über ein Atomwaffenverbot. Die Schweiz hat dieses Abkommen noch nicht unterzeichnet. Aus gutem Grund, wie Bundesrat Ignazio Cassis im Interview betont: «Wir wollen die Abschaffung solcher Waffen. Aber nur, weil ein Vertrag einen schönen Titel hat, bringt er uns nicht einfach ans Ziel. Deshalb hat der Bundesrat einen Zusatzbericht in Auftrag gegeben, um offene Fragen zu klären.»
Erfolgreiche Partnerschaften trotz kritischen Gesprächen
Neben der Publikation des ersten freiwilligen Berichtes zur Umsetzung des humanitären Völkerrechts standen weitere Politthemen im Zentrum der beiden Zeitungsinterviews. Unter anderem die Wichtigkeit guter Partnerschaften mit anderen Ländern. «Für unser exportorientiertes Land ist der bilaterale Weg mit der EU unverzichtbar. Die Begrenzungsinitiative mit der Guillotineklausel würde dessen Ende bedeuten», betont Bundesrat Cassis mit Blick auf die anstehende Volksabstimmung «Für eine massvolle Zuwanderung» (BGI) vom 27. September 2020.
Aber nicht nur die europäische Politik wurde diskutiert, auch die Beziehung mit China stand im Fokus. «Wir haben stets unsere Besorgnis über die Menschenrechtssituation in China zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel über die uigurische Situation in Xinjiang und die eskalierende Situation in Hongkong, wo das Prinzip eines Zweisystemlandes bedroht ist. Trotz Herausforderungen und kritischen Meinungsverschiedenheiten unterhalten wir mit der Volksrepublik China eine freundschaftliche Beziehung», betont Ignazio Cassis.
Nur mit gut funktionierenden internationalen Beziehungen, klaren Regeln und der allgemeinen Achtung des humanitären Völkerrechts können globale Herausforderungen gemeinsam erfolgreich gemeistert werden.