«Zwischenstaatliche Zusammenarbeit ist gerade in Krisenzeiten zentral»
Botschafter Christian Meuwly, Ständiger Vertreter der Schweiz beim Europarat in Strassburg, spricht im Interview über die Europäische Menschenrechtskonvention (ERMK), die 70 wird, über ihre Wirkungsmacht und Entwicklung sowie über die zentrale Bedeutung, welche der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit gerade in Krisenzeiten zukommt.
(Quelle: Broschüre: «Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) …», Schweiz. Komp.zentr. f. Menschenrechte (SKMR) et al., Luzern, 2014) © EDA
Herr Meuwly, die Europäische Menschenrechtskonvention (ERMK) wird dieses Jahr 70. Wie haben sich die Themen, mit welchen sich die EMRK befasst, im Laufe der Zeit verändert?
Die Lebensumstände der Bevölkerung entwickeln sich stetig weiter. Neue Technologien wie die künstliche Intelligenz oder die Reproduktionsmedizin werfen neue Fragen betreffend den Schutz der Menschenrechte auf. Alle Gesetze, Verordnungen und Gerichtsentscheide müssen heute immer auch im Lichte der Grundrechte beurteilt werden. Dies ist eine grosse Herausforderung für die nationalen Behörden und beschäftigt den Europarat stark. Zudem ist dieser nach dem Ende des Kalten Krieges von einer westeuropäischen zu einer paneuropäischen Organisation geworden. Entsprechend haben Zahl und Vielfalt der Fragen bezüglich Menschenrechte beträchtlich zugenommen.
Aktuell erschüttert die COVID-19-Krise die Welt. Welche Rolle spielt der Europarat bei der Bewältigung der Pandemie? Kann er seine Aufgabe unter den gegebenen Umständen überhaupt wahrnehmen?
Gerade in einer weltweiten Krise wie der COVID-19-Pandemie ist die zwischenstaatliche Zusammenarbeit von zentraler Bedeutung. Um globale Herausforderungen wie diese bewältigen zu können, ist der internationale Austausch über Erkenntnisse und Massnahmen unerlässlich. Die internationalen Organisationen stellen Plattformen bereit, über welche dieser Austausch erfolgen kann. Im Europarat steht die Frage der Gouvernanz im Mittelpunkt: Wie können Probleme des Zusammenlebens unter grösstmöglicher Wahrung der Rechte und Freiheiten des Einzelnen und unter Beachtung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze wirksam gelöst werden? Diese Frage steht ja im Zentrum der öffentlichen Debatte über die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie.
Blicken wir kurz zurück: Die EMRK wurde am 4. November 1950 unterzeichnet. Im Jahr zuvor hatten zehn westeuropäische Länder den Europarat gegründet. Warum überhaupt wurde damals ein verbindliches Instrument zum Schutz der Menschenrechte in Europa geschaffen?
Die Ereignisse vor und während dem Zweiten Weltkrieg hatten deutlich gemacht, dass die feierliche Beschwörung abendländischer Werte und Tugenden allein nicht genügte, um die Menschenrechte in Europa wirksam zu schützen. Nachdem die Vereinten Nationen 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet hatten, schafften es die Europäer, ein Schutzsystem einzurichten, welches es ermöglichte, dass einzelne Menschen ihre individuellen Rechte einfordern und mit einer Beschwerde an eine supranationale Institution, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, gelangen können. Dieser überwacht damit die konkrete Einhaltung dieser Grundrechte.
Wie muss man sich die Situation vorstellen, in der sich Europa in der Nachkriegszeit befand?
Europa war geteilt; die Staaten im Zentrum und Osten standen unter sowjetischer Kontrolle. Westeuropa war mit riesigen Herausforderungen konfrontiert. Der Wiederaufbau musste an die Hand genommen werden; dies geschah unter der Führung der USA durch den Marshall-Plan und mit der Gründung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Militärisch galt es, der Sowjetunion und ihren Verbündeten entgegenzutreten, was man mit der Schaffung der NATO unter der Führung der USA tat. Westeuropäische Persönlichkeiten wiederum setzten sich für ein eigenständiges, auf freiheitlichen und demokratischen Werten beruhendes vereinigtes Europa ein. Die Gründung des Europarats geht auf ihre Vision zurück.
Durch die Schaffung der EMRK wurde der Schutz der Menschenrechte auf rein innerstaatlicher Ebene mit internationalen Garantien und Schutzmechanismen ergänzt. Sie trat 1953 mit der 10. Ratifikation in Kraft. Würden Sie von einer Erfolgsgeschichte sprechen?
Ja, das kann man bestimmt sagen. Die Europäische Menschenrechtskonvention bezweckt die Garantie der Rechte, die in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung enthalten sind. Eine Ratifizierung der EMRK samt Abschaffung der Todesstrafe sind Grundvoraussetzungen für die Mitgliedschaft im Europarat. Die Möglichkeit, die Vereinbarkeit höchstrichterlicher innerstaatlicher Entscheide mit den Menschenrechten von einem internationalen Gerichtshof überprüfen zu lassen, war weltweit neu und einmalig.
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Wann hat die Schweiz die EMRK unterzeichnet?
Am 21. Dezember 1972, also fast zehn Jahre nach dem Beitritt unseres Landes zum Europarat am 6. Mai 1963. Die schweizerische Rechtsordnung war noch in den 60er-Jahren in wesentlichen Teilen nicht mit der EMRK vereinbar. Insbesondere zu nennen sind hier das Frauenstimmrecht, welches bekanntlich erst 1971 eingeführt wurde, sowie die gegen die katholische Kirche gerichteten konfessionellen Ausnahmeartikel der Bundesverfassung. Ratifiziert hat die Schweiz die EMRK am 28. November 1974.
Wie würdigen Sie die Wirkungsmacht der EMRK ganz generell?
Die EMRK hat einen grossen Einfluss auf Rechtsprechung, Gesetzgebung und Regierungspraxis in Europa. Auch in der Schweiz sind Gerichte, Parlamente, Regierungen und Verwaltungen darauf bedacht, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechnung zu tragen. Wirkung entfaltet die EMRK aber auch in Mitgliedstaaten, in denen Verletzungen der Menschenrechte gehäuft vorkommen. Politisch verfolgte Personen und Menschenrechtsverteidiger finden in Strassburg nicht nur in letzter Instanz Unterstützung. Die Probleme in diesen Ländern kommen in der Öffentlichkeit zur Sprache, und ihre Vertreterinnen müssen sich sowohl in der Parlamentarischen Versammlung wie auch im Ministerrat des Europarats rechtfertigen. Von Bedeutung sind auch die zahlreichen Expertenausschüsse, wo die Mitgliedstaaten sich über spezifische Fragen wie etwa das Gefängniswesen oder den Kampf gegen Hass und Rassismus auf sozialen Netzwerken austauschen und entsprechende Empfehlungen verabschieden.
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