Schweizer Diplomatie am Puls der Zeit: Vom Häftling zum Staatspräsidenten

1989 – der kalte Krieg ist zu Ende – ist eine Zeit des Umbruchs in Europa. In der Tschechoslowakei wird Václav Havel innerhalb weniger Monate vom Häftling zum Staatspräsidenten. Zum ersten Mal werden in der Schweiz Dokumente publik, die, von Schweizer Diplomaten verfasst, eindrücklich die Ereignisse dieser Zeit schildern. Publiziert werden diese Dokumente von der Forschungsstelle Dodis, Direktor Sacha Zala im Gespräch.

24.11.2020
Václav Havel legt umringt von anderen Menschen auf dem Wenzelsplatz Blumen nieder.

Václav Havel legt am 16. Januar.1989 auf dem Wenzelsplatz in Prag Blumen nieder, um dem Tod von Jan Palach zu gedenken, der sich 1969 anlässlich der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings an dieser Stelle selbst verbrannte. © MD/Wikimedia

Im Gedenken an die blutige Niederschlagung des Prager Frühlings legen er und seine Mitstreiter auf dem Wenzelsplatz in Prag Blumen nieder. Die Gedenkveranstaltung wird von der Polizei gewaltsam aufgelöst, er wird wegen «Aufruf zur Behinderung der Sicherheitskräfte» verhaftet und eingesperrt. Zu diesem Zeitpunkt, es ist der 16. Januar 1989, hat er wegen seiner politischen Aktivitäten bereits mehrere Jahre im Gefängnis verbracht.

Nicht ganz zwei Jahre später, am 22. November 1990, sitzt er nicht in einer Zelle, sondern in einer Limousine des Bundes. Auf ihn warten Bundespräsident Arnold Koller sowie die Bundesräte Otto Stich und René Felber. Sein Name ist Václav Havel, er ist Dramatiker, ehemaliger Dissident und seit einem Jahr der Staatspräsident der Tschechoslowakei. Mit der Schweizer Regierung stehen Gespräche über das Verhältnis der Schweiz zur Tschechoslowakei und der Rolle seines Landes im vereinigten Europa an.

Der tschechoslowakische Staatspräsident Václav Havel und Bundespräsident Arnold Koller beim Empfang auf dem Bundesplatz in Bern.
Präsident Václav Havel bei seiner Ankunft in Bern, dem Auftakt seines zweitägigen Besuchs in der Schweiz. Empfangen wird er von Bundespräsident Koller, beide Mitte rechts im Hintergrund. © Dodis

Genau wie das Leben von Václav Havel hat die Tschechoslowakei in den zwei Jahren vor seinem Besuch in Bern einen dramatischen Wandel erfahren. Das kommunistische Regime ist zurückgetreten, an seiner Stelle haben Reformkräfte die Regierungsgeschäfte übernommen. Nach 40 Jahren kommunistischer Diktatur soll das Land zur Demokratie nach westlichem Vorbild werden.

Diplomaten als Fühler der Schweiz in der Welt

Der Schweizer Botschafter in Prag verfolgt die Ereignisse genau: «Der Umbruch ist total», schreibt er am 29. Januar 1990 in einer Depesche an Bern. Sein Bericht und andere Dokumente werden nun erstmals öffentlich gemacht, und berichten aus erster Hand vom dramatischen Umbruch in der Tschechoslowakei. 

Le bouleversement est total.
Der Schweizer Botschafter in Prag, 29.01.1990

Wie der Botschafter in Prag beobachten überall in der Welt Schweizer Diplomaten die Ereignisse in ihren Aufenthaltsländern. Sie sind sozusagen die Fühler der offiziellen Schweiz in der Welt und berichten aus erster Hand nach Hause. Auf diese Weise ist über die Jahrzehnte eine gewaltige Ansammlung historischer Dokumente entstanden.

Das diplomatische Gedächtnis der Schweiz

Diese Ansammlung umfasst inzwischen 65 Laufkilometer, gesammelt im Schweizerischen Bundesarchiv. Quellen sind das EDA, aber auch der Bundesrat, die restliche Bundesverwaltung oder andere öffentliche oder private Akteure. Zugänglich sind diese Akten für jedermann, jedoch dürfen sie erst nach einer Sperrfrist von 30 Jahren gesichtet werden. Diplomatische Dokumente von 1990 werden folglich erst jetzt publik.

Die unabhängige Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz, kurz Dodis, durchforstet die Bestände des Bundesarchivs und veröffentlicht eine Auswahl an historischen Dokumenten auf ihrer Online-Datenbank Dodis. Wichtige Ereignisse wie der Besuch von Václav Havel in Bern und der Umbruch in der damaligen Tschechoslowakei werden so wieder in Erinnerung gerufen. Dodis fungiert sozusagen als Türöffner zur Vergangenheit, indem die Forschungsstelle den Historikerinnen und Historikern sowie einer interessierten Öffentlichkeit eine erste Selektion historischer Quellen zugänglich macht.

Prof. Dr. Sacha Zala, Direktor von Dodis, beantwortet einige Fragen zur Arbeit der Forschungsstelle:

Prof. Dr. Sacha Zala, Direktor von Dodis
Prof. Dr. Sacha Zala, Direktor von Dodis © Sacha Zala

Lieber Herr Zala, Dodis ruft uns das 30-jährige Jubiläum des Besuchs von Václav Havel in Bern in Erinnerung. Können Sie uns anhand dieses Beispiels die Zielsetzung der Arbeit von Dodis erläutern?

Unser aktuelles Teilprojekt zu den 1990er Jahren sieht vor, amtliche Dokumente zu den internationalen Beziehungen der Schweiz – analog zu ausländischen Vorbildern – unmittelbar nach Ablauf der archivischen Schutzfrist von 30 Jahren zu publizieren. Wir können somit zeitgeschichtliches Material präsentieren, das zuvor noch gar nicht zugänglich war. Havels Besuch ist nur eines von einer Vielfalt an Themen zu den internationalen Beziehungen der Schweiz im Jahr 1990, wie man ab dem 1. Januar 2021 auf Dodis sehen wird.

Dodis sichtet jedes Jahr rund 600 Laufmeter Akten, wählt davon rund 60 Dokumente für die gedruckte Edition und ca. 1500 weitere für die Datenbank aus. Wie gehen Sie vor?

Das Kollegialitätsprinzip des schweizerischen Regierungssystems führt dazu, dass alle Departemente sich direkt oder indirekt mit aussenpolitischen Fragen beschäftigen. Massgeblich sind für uns neben den strategischen Archivbeständen des EDA insbesondere die Protokolle des Bundesrats sowie die Akten aus allen Dienststellen der Bundesverwaltung, die sich etwa im Bereich von Wirtschaft und Finanzen, Umwelt, Migration, Verkehr, Wissenschaft oder Kultur mit internationalen Belangen beschäftigen. Unser Ansatz ist, dass wir jene Dokumente auswählen, die ein bestimmtes Thema möglichst übergeordnet erfassen und möglichst viele Fragestellungen zulassen. 

Haben Sie in Ihrer Karriere in den historischen Akten Dinge entdeckt, die Sie persönlich überrascht haben?

Über die Geschichte der schweizerischen Aussenpolitik wird, wie so oft, nur dann öffentlich diskutiert, wenn irgendwelche tatsächlichen oder vermeintlichen Skandale aufgedeckt werden. So will es das Aufmerksamkeitsdiktat der Medien. Wenn man sich – wie wir – über Jahrzehnte mit der historischen Entwicklung der Schweizer Aussenpolitik beschäftigt, relativiert sich manche vermeintliche Sensation. Wir leisten die Grundlagenarbeit im Hintergrund, die es ermöglicht, Ereignisse in grösseren Zusammenhängen zu beleuchten. Dadurch wird deutlich sichtbar, wie stark die Schweiz mit der Welt vernetzt ist.

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