Humanitäre Hilfe, Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit: zwei Geschichten aus dem Sudan

Die Bilder von den Überschwemmungen im Sudan gingen um die Welt. Yvonne Josy Müller, eine Expertin des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe zuständig für den Bereich Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene berichtet nach ihrer Rückkehr über ihre Erfahrungen. Ausserdem nutzen wir die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Berater für humanitäre Hilfe Amir Yousif Hamid in Khartum, der uns ein zentrales Konzept bei allen Aktivitäten der Schweiz in der Region erläutert: nachhaltige Entwicklung.

Ein Mann geht eine Strasse hinunter. Seine Beine sind vollständig im Wasser versunken.

Die Überschwemmungen während der saisonalen Regenfälle im September 2020 waren die schwersten in den letzten 30 Jahren. Zahlreiche Menschen verloren ihr Leben. © EDA, Mudathir Abd Alhameed

Es ist 16Uhr, als die Verbindung nach Khartum zustande kommt. Amir Hamid erwartet uns am Telefon und nimmt uns sogleich mit auf eine Reise in die Vergangenheit – oft der beste Weg, um die Gegenwart besser zu verstehen.

Humanitäre Krise: von der Peripherie ins Zentrum

Die Humanitäre Hilfe des Bundes engagiert sich seit mehreren Jahrzehnten im Sudan. Das Ziel dabei: Leben zu retten und Opfer von bewaffneten Konflikten und Naturkatastrophen zu schützen. «Man muss sich in Erinnerung rufen, dass der Sudan, der bereits Schauplatz wiederholter Konflikte war – insbesondere in der Region Darfur – den Südsudan verloren hat, der 2011 nach einem Referendum die Unabhängigkeit erlangte. Damit gingen dem Sudan gleichzeitig rund 75 Prozent seiner Erdölressourcen verloren. Die Loslösung des Südsudans ist ein Schock, von dem sich das Land noch nicht erholt hat», erklärt Amir Hamid.

Einige Menschen sitzen am Rand einer überfluteten Strasse. Neben ihnen liegen Möbel.
Ernährungssicherheit, Migration und Schutz der schwächsten Bevölkerungsgruppen sind die Schwerpunkte der Schweizer Unterstützung im Sudan. © EDA, Mudathir Abd Alhameed

Politische Konflikte, der Raubbau an den natürlichen Ressourcen, Wirtschaftskrise – die weltweit höchste Inflationsrate, die nur noch von Venezuela übertroffen wird – und gesundheitliche sowie politische Krisen haben die humanitäre Lage noch weiter zugespitzt. «Die Zahl der Menschen, die unter den Folgen der Konflikte und der Wirtschaftskrise leiden, nimmt ständig zu. Gleichzeitig hat die humanitäre Krise, die sich früher auf die westliche und südwestliche Peripherie konzentriert hat nun auch geographisch verändert. Sie betrifft neu auch Regionen im Ost- und Zentralsudan, darunter auch die Hauptstadt Khartum», erklärt Amir Hamid. Bereits vor den jüngsten Überschwemmungen waren nach Angaben der Vereinten Nationen (UNO) 9,3 Millionen Menschen von der humanitären Krise betroffen. Besonders verletzlich sind Binnenvertriebene, die bereits früher unter politischer Instabilität und Machtkämpfen zu leiden hatten. Etwa 2,5 Millionen von ihnen leben in Gebieten, die besonders stark von Naturkatastrophen betroffen sind (Dürre, Überschwemmungen, Heuschreckenplage, etc). Insgesamt beherbergt der Sudan fast 1,1 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende aus den Nachbarländern.

Humanitäre Hilfe in Krisenzeiten – mit nachhaltiger Wirkung

Zwei Experten der Humanitäre Hilfe nehmen Wasserproben. Ein paar Leute stehen um sie herum.
Die Schweiz entsandte zwei Experten für Wasser, Sanitärversorgung und Hygiene. Die Trinkwasserversorgung ist von zentraler Bedeutung. © EDA

Die Überschwemmungen im Zuge der saisonalen Regenfälle im September 2020 waren die schwersten seit drei Jahrzehnten. Zahlreiche Menschen verloren ihr Leben. Die Schweiz reagierte mit einem Beitrag in Höhe von einer Millionen Franken zugunsten des Sudan Humanitarian Fund (SHF), einen von den Vereinten Nationen verwalteten Fonds, der Mittel für Nothilfeoperationen bereitstellt. Die Schweiz entsandte zudem zwei Experten – Yvonne Josy Müller und Gilbert Monnard – zur Unterstützung der betroffenen Bevölkerung. «Das Ausmass der Überschwemmungen war ausserordentlich; ganze Dörfer wurden zerstört. Bilder von kaputten Häusern, schlammbedeckten Möbelstücken und ruinierten Kleidern zeigen, wie schnell die Menschen aus ihren Häusern fliehen mussten, ohne ihr Hab und Gut retten zu können», erklärt Yvonne Müller. Die Grundbedürfnisse nach einer solchen Katastrophe sind offensichtlich: Die Menschen brauchen ein sicheres Dach über dem Kopf. «Im Austausch mit den Einheimischen wurde rasch klar, dass zudem ein funktionierendes Gesundheitssystem sowie Sanitär- und Trinkwasserversorgung von zentraler Bedeutung sind.»

Yvonne Müller weiss aufgrund ihrer Erfahrung aus zahlreichen humanitären Hilfseinsätzen, wie wichtig solche präventiven Massnahmen sind, um die Ausbreitung von Krankheiten nach Naturkatastrophen zu verhindern. Dies ist von entscheidender Bedeutung in einem Land, in dem schätzungsweise 70 Prozent der Bevölkerung von Malaria betroffen sind, vor allem während der saisonalen Regenzeit, in der sich die Stechmücken stärker ausbreiten. Viele verschiedene Tropenkrankheiten sowie das Risiko eines Choleraausbruchs nehmen nach solchen Überschwemmungen drastisch zu. Zusätzlich haben sich die Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung durch die globale COVID-19-Pandemie noch weiter verschärft. «Als wir vor Ort angekommen sind, mussten wir uns zunächst einen Überblick über die Zahl der Betroffenen schaffen und den Umfang der geleisteten humanitären Hilfe ermitteln. In Notsituationen ist eine gute Koordination mit verschiedenen Akteuren wie dem sudanesischen Roten Kreuz oder den UNO-Organisationen eine Herausforderung, aber unerlässlich, um zu verstehen, wo die Bedürfnisse liegen und wo die Schweiz konkret nachhaltige Hilfe leisten kann», erklärt die Expertin. Yvonne Müller unterstreicht auch die positive Reaktion der lokalen Behörden und der lokalen Gemeinschaften. Die sudanesische Regierung ist eine Übergangsregierung, die ihre Bedürfnisse transparent kommuniziert und internationale Zusammenarbeit als verlässliche Partnerin bei der Bewältigung dieser zahlreichen Krisen schätzt, auch wenn administrative und andere Hindernisse für humanitäre Interventionen nach wie vor grosse Herausforderungen sind.

Zwei Schlüsselbegriffe: Entwicklung und Nachhaltigkeit

Ein Mann steht auf Sandsäcken vor seinem halb zerstörten Haus am Rand einer überfluteten Strasse.
Vor den jüngsten Überschwemmungen waren 9,3 Millionen Menschen von der humanitären Krise betroffen. © EDA, Mudathir Abd Alhameed

Der Sudan ist eines der Länder, in denen die Schweiz am meisten humanitäre Hilfe leistet. Mit einem Beitrag von über 10 Millionen Schweizer Franken im Jahr 2020 unterstützt die Schweiz mittel- und langfristige Projekte sowie die von den Überschwemmungen am stärksten betroffenen Gemeinden. Sie engagiert sich in den Bereichen Ernährungssicherheit (schätzungsweise 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche wurde durch die Überschwemmungen zerstört), Migration und Schutz der schwächsten Bevölkerungsgruppen, um insbesondere Binnenvertriebene zu unterstützen. «Neben der humanitären Hilfe, die Menschen unterstützt, die von Natur- oder Menschen gemachten Katastrophen oder Konfliktsituationen betroffen sind, will sich die Schweiz vermehrt in Projekten engagieren, die dazu beitragen, die Lebensbedingungen der Menschen vor Ort nachhaltig zu verbessern. Die positiven Beispiele aus Somalia und Äthiopien zeigen, dass rasche humanitäre Hilfe kombiniert mit langfristigen Projekten der Entwicklungszusammenarbeit ein Erfolgsrezept ist», erklärt Amir Hamid.

Die Unterstützung des politischen Wandels im Sudan ist auch ein zentraler Aspekt der nachhaltigen Entwicklungszusammenarbeit und der erneuerten politischen Unterstützung durch die Schweiz. Aufbauend auf ihrer langjährigen Tradition der Zusammenarbeit zur Lösung der internen Konflikte wird sich die Schweiz vermehrt im Sudan engagieren, um den anspruchsvollen gesellschaftlichen Versöhnungsprozess und die Aufarbeitung einer von Gewalt und politischer Marginalisierung geprägten Vergangenheit zu unterstützen. Sie verpflichtet sich damit, die sudanesische Bevölkerung auf diesem schwierigen Weg zu einem inklusiveren und demokratischeren politischen Prozess, der die Menschenrechte achtet, zu unterstützen. «Im Dezember 2019 gingen Tausende Sudanesinnen und Sudanesen, vor allem Frauen und Jugendliche, auf die Strasse, um friedlich gegen die wirtschaftliche Not und Unterdrückung unter dem früheren Regime von Präsident Omar al-Bashir zu protestieren, der das Land in den vergangenen dreissig Jahren regiert hatte», erinnert sich Amir Hamid. «Obwohl sich die neue, zivil-militärisch geführte Übergangsregierung unter Premierminister Hamdok verpflichtet hat, die langwierigen Konflikte im Sudan zu beenden und die zerrüttete Wirtschaft zu reformieren, kämpft die neue Regierung darum, die massive Last der Vergangenheit zu überwinden.»

Neben den Trümmern eines Hauses wird ein Auto mit aus dem Schlamm geborgenen Möbeln beladen.
In Notfallsituationen sind es oft die Nachbarn, vor allem die jüngere Generation, die den betroffenen Familien am meisten helfen. © EDA, Credits: Mudathir Abd Alhameed

Die Unterzeichnung des Friedensabkommens von Juba vom 3. Oktober 2020 zwischen der sudanesischen Regierung und den Rebellengruppen ist ein bedeutender Schritt für das Land. Doch um die junge Bevölkerung mit dem wachsenden Wunsch nach Freiheit, Würde und Gerechtigkeit zu verbinden, ist eine nachhaltige internationale Zusammenarbeit unerlässlich. Obwohl sich die Regierung erst gerade formiert und noch nicht in der Lage ist, eine derart grosse Krise aus eigener Kraft zu bewältigen, gibt es erste positive Schritte. «Die Regierung hat eine Einsatzzentrale eingerichtet, um die Reaktion auf die Krise zusammen mit den internationalen Organisationen und der Zivilgesellschaft zu koordinieren. Das ist ein Beispiel dafür, wie Krisen in Zukunft bewältigt werden können: Es geht darum, die Bedürfnisse der Bevölkerung auf transparente Weise zu ermitteln und die nötigen Handlungsinstrumente bereitzustellen, um darauf zu reagieren, unter anderem auch durch Zusammenarbeit», fährt Amir Hamid fort. Yvonne Müller unterstreicht auch die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Zivilgesellschaft besteht zu einem grossen Teil aus jungen Menschen, die sich selbständig organisieren, um der Bevölkerung zu helfen. «Wir erfuhren, dass den betroffenen Familien oft die Nachbarn, vor allem die jüngere Generation, am meisten helfen, indem sie Schutzmauern errichten, ihre Häuser räumen und für Nahrung und Wasser sorgen. Viele Familien sind auf die Grosszügigkeit ihrer Gemeinden angewiesen», betont sie.

COVID-19: Schweiz spendet 1,64 Millionen medizinische Masken für den Sudan

COVID-19 stellt auch den Sudan vor grosse gesundheitliche Herausforderungen. Damit der Bevölkerung vor Ort geholfen werden kann, hat die Schweiz dem UNHCR im Sudan 1,64 Millionen medizinische Masken gespendet. Das Material dient dazu, humanitäre Helferinnen und Helfer sowie medizinisches Personal zu schützen, die in dieser schwierigen Zeit den Schwächsten helfen.

Zum Anfang