«60 Millionen Menschen leben täglich unter der Bedrohung von Sprengsätzen»

Das Genfer Internationale Zentrum für humanitäre Minenräumung (GICHD) wurde 1998 auf Initiative der Schweiz gegründet, die es seither auch finanziell unterstützt. Es ist in rund 40 Staaten aktiv und gibt sein Fachwissen an die betroffenen Länder weiter, um sie bei der Minenbekämpfung zu unterstützen. In der Ukraine hilft das GICHD bei der Identifizierung und Planung von Operationen zur humanitären Minenräumung, erklärt Stefano Toscano, Direktor des Zentrums im Interview.

Ein Mann in Schutzkleidung arbeitet auf einem Feld, auf dem ein Schild gepflanzt ist, das auf Lebensgefahr hinweist.

Das Internationale Zentrum für humanitäre Minenräumung (GICHD) arbeitet seit 2012 in der Ukraine in enger Zusammenarbeit mit seinen nationalen Partnern. © GICHD

Porträtfoto von Stefano Toscano, Direktor des GICHD.
Stefano Toscano leitet das GICHD mit Sitz in Genf. © GICHD

Was macht das GICHD?

Das Genfer Internationale Zentrum für humanitäre Minenräumung (GICHD) setzt sich für die Reduktion der Risiken ein, die durch explosive Kampfmittel verursacht werden. Dazu gehören Landminen, Streumunition, explosive Kriegsmunitionsrückstände und unsichere bzw. ungesicherte Munitionslager. Auch wenn Konflikte, bei denen Kampfmittel zurückbleiben, nur wenige Jahre oder sogar nur wenige Tage andauern, nimmt der Prozess der Ortung, Identifizierung, Dokumentation und Beseitigung dieser Minen und Munitionsrückstände oft Jahrzehnte in Anspruch und erfordert erhebliche Investitionen. Tausende von Menschen verlieren ihr Leben oder tragen irreparable Verletzungen davon. Die Überlebenden und ihre Familien kämpfen mit den physischen, psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Unfällen mit Kampfmitteln. Schätzungsweise 60 Millionen Menschen in über 60 Ländern und Gebieten droht im Alltag Gefahr durch Minen, Streumunition und andere explosive Kriegsmunitionsrückstände.

Das GICHD ist jedes Jahr in rund 40 Ländern tätig. Wir leisten vorgelagerte Unterstützung, indem wir nationale Behörden befähigen, ihre eigenen Programme umzusetzen. Der Fokus liegt auf der Entwicklung geeigneter Strategien, Normen und administrativer Rahmenbedingungen, einschliesslich des Informationsmanagements. Das Zentrum setzt sich auch für die Entwicklung und Umsetzung internationaler Normen und Standards ein, indem es einschlägige internationale Instrumente und Prozesse fachlich unterstützt.

Ein Mann trägt eine Jacke mit der Aufschrift GICHD auf dem Rücken und schaut eine Frau an, die Erklärungen zu einer Karte abgibt.
Das GICHD ist ein Zentrum für technische Expertise und Ausbildung im Bereich der humanitären Minenräumung. Hier bei einer Evaluierungsmission in Bosnien und Herzegowina im Jahr 2016. © GICHD

Vor Ort kann diese Arbeit unterschiedliche Formen annehmen. In der Ukraine beispielsweise arbeiten wir seit 2012 eng mit nationalen Partnern zusammen, um die Minenräumkapazitäten zu steigern. Seit der Eskalation der Feindseligkeiten im vergangenen Jahr besteht ein Schwerpunkt der Arbeit des GICHD darin, die nationalen Behörden bei der Identifizierung und Dokumentierung der durch Kampfmittel verseuchten Gebiete zu unterstützen, damit diese auch während des Konflikts fundierte Entscheidungen über die Planung und Priorisierung humanitärer Minenräumaktionen treffen können. In Simbabwe haben wir verschiedene Interessengruppen zusammengebracht, um eine umfassende Strategie für das Land zu entwickeln, das bis 2025 komplett minenfrei sein will. In Peru unterstützt das Zentrum den Ausbau der nationalen Kapazitäten zur Gewährleistung einer sicheren und gesicherten Lagerung und Verwaltung von Munition im Einklang mit internationalen Richtlinien.

Auf internationaler Ebene, hier in Genf, leistet das GICHD fachlichen Support und berät verschiedene Akteure, um die wirksame Umsetzung von Verträgen und Übereinkommen zu unterstützen, die den Einsatz von Antipersonenminen, Streumunition und anderen Sprengkörpern, einschliesslich improvisierter Sprengkörper, verbieten oder regeln. Indem das Zentrum sein Fachwissen und seine Praxiserfahrungen auf internationaler Ebene einbringt, trägt es zu evidenzbasierten Diskussionen und Entscheidungen bei.

Worin liegt die Stärke des internationalen Genf?

Das internationale Genf, das als Hauptstadt des Friedens und der humanitären Hilfe gilt, befasst sich täglich mit neuen globalen Herausforderungen. Das GICHD erfüllt dabei eine Brückenfunktion, indem es eine Verbindung zwischen nationalen Kontexten, dem regionalen Austausch und internationalen multilateralen Prozessen herstellt. Dadurch wird die humanitäre Minenräumung auf allen Ebenen gestärkt: Insbesondere wird sichergestellt, dass Erfahrungen und Herausforderungen auf einzelstaatlicher Ebene in die Entwicklung und Umsetzung internationaler normativer Rahmenwerke einfliessen; dass die Kodifizierung von Wissen und bewährten Praktiken in Standards, die als Richtschnur für die operative Umsetzung dieser Instrumente dienen, unterstützt wird; dass der Transfer von Forschung, Innovation und bewährten Praktiken von der internationalen Ebene auf den einzelstaatlichen Kontext funktioniert, damit die nationalen Akteure in der Lage sind, ihre Arbeit sicher, effizient und effektiv auszuführen; und dass der Dialog und Austausch auf regionaler Ebene gefördert wird, um die Zusammenarbeit und den Austausch bewährter Praktiken zu fördern.

Wie diese Brückenfunktion zwischen dem internationalen Genf und einzelstaatlichen Kontexten umgesetzt wird, zeigt sich am Beispiel der Integration und Förderung der Themen Gender, Diversität und Inklusion in Antiminenprogrammen und in der Munitionsverwaltung. Diese Überlegungen sind bei der Risikoverminderung im Zusammenhang mit Kampfmitteln besonders wichtig, sowohl um die operative Leistungsfähigkeit zu verbessern als auch wegen ihrer transformativen Wirkung auf die Gemeinschaften. Das GICHD unterstützt diese Bestrebungen unter anderem durch Forschungsarbeiten und die Förderung bewährter Verfahren.

GICHD-Hauptquartier in Genf, ein verglastes Gebäude.
Das GICHD mit Sitz in Genf fungiert als Bindeglied, indem es nationale Kontexte mit multilateralen Prozessen verknüpft. © A. Tardy

Wie unterstützt das GICHD das Engagement der Schweiz?

Vor 25 Jahren hat die Schweiz mit der Unterzeichnung des Übereinkommens über das Verbot von Antipersonenminen ihr Engagement und ihre Führungsrolle im Bereich der humanitären Hilfe und des Völkerrechts unter Beweis gestellt und ihre Absicht angekündigt, ein Zentrum zur Unterstützung der Umsetzung dieses neuen Vertrags zu schaffen. Das GICHD wurde auf Initiative der Schweiz als Kompetenzzentrum und Ausbildungsstätte im Bereich der humanitären Minenräumung gegründet, um zur Weiterentwicklung und Professionalisierung des Sektors beizutragen.

Ein Vierteljahrhundert später teilen das GICHD und die Schweiz immer noch viele strategische Prioritäten, unter anderem in den Bereichen humanitäre Angelegenheiten, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie nachhaltige Entwicklung und Frieden. Konkret trägt das GICHD im Rahmen dieser gemeinsamen Prioritäten dazu bei, den Schutz der Zivilbevölkerung zu stärken, Entwicklung und Frieden zu fördern und das internationale Genf als globales Gouvernanzzentrum für Abrüstung und Rüstungskontrolle im Allgemeinen sowie für humanitäre Minenräumung und Munitionsverwaltung im Besonderen zu stärken.

Das GICHD sieht die von explosiven Kriegsmunitionsrückständen betroffenen Staaten im Mittelpunkt der Lösung. Dieser Ansatz deckt sich mit dem Fokus der Schweiz auf der Stärkung der landeseigenen Kapazitäten zur Bewältigung nationaler Herausforderungen. Ein kontinuierlicher Kapazitätsaufbau soll die nationalen Behörden letztlich in die Lage versetzen, die Herausforderungen selbst zu bewältigen. Im vergangenen Jahr zeigte sich dies sehr deutlich am Beispiel der von der Schweiz finanzierten und vom GICHD geleiteten Ausbildungskurse, die an die aktuellen lokalen Bedürfnisse angepasst und in der Ukraine in ukrainischer Sprache durchgeführt wurden. Die Unterstützung des langfristigen Kapazitätsaufbaus bei nationalen und internationalen Partnern bleibt ein Grundpfeiler der Arbeit des GICHD. Dies fördert die Eigenverantwortung der Länder und dient der Lokalisierung von Massnahmen.

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