Artikel, 30.09.2013

Die Jahreskonferenz der Entwicklungszusammenarbeit 2013 der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA) und des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) in Lugano hat am 27. September unter dem Titel «Eine fragile Welt – Perspektiven junger Menschen» stattgefunden. Im Gespräch nach der Konferenz hat DEZA-Direktor Martin Dahinden Bilanz gezogen, das stärkere Engagement der DEZA in fragilen Kontexten erklärt, die Anforderungen an Mitarbeiter in solchen Gebieten erläutert und von seinen persönlichen Erfahrungen in instabilen Ländern und Regionen berichtet.

Was ist Ihre persönliche Bilanz aus der Jahreskonferenz der Entwicklungszusammenarbeit 2013?
Ich bin beeindruckt davon, wie viele Menschen den Weg ins Tessin gefunden haben; besonders viele junge. Es hat mich auch gefreut, dass zahlreiche Tessinerinnen und Tessiner anwesend waren. Die verschiedenen Rednerinnen und Rednern, von der jungen Unternehmerin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten bis zum ehemaligen Kindersoldaten aus Südsudan, haben die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit von fragilen Kontexten zum Ausdruck gebracht.

Der Begriff «fragile Kontexte» hört sich im ersten Moment negativ an und es ist nicht ganz einfach, sich etwas darunter vorzustellen. Die Konferenz hat trotz den Schwierigkeiten, die zu fragilen Kontexten gehören, viel Hoffnung vermittelt.

Welche Wirkung erhoffen Sie sich von der Konferenz?
Ich wünsche mir, dass die Bevölkerung einen Einblick in die Realität und das Leben in fragilen Kontexten erhalten hat. Zugleich ist es mir ein Anliegen, dass sie informiert worden ist, wie die DEZA in fragilen Kontexten arbeitet.

Die Schweiz wird sich gemäss der Strategie der Internationalen Zusammenarbeit 2013-2016 stärker in fragilen Kontexten engagieren. Worin besteht das stärkere Engagement der DEZA genau?
In den letzten zehn Jahren wurde weltweit in der Armutsreduzierung viel erreicht. Aber nicht in allen Ländern konnte gleichermassen ein Fortschritt erzielt werden; fragile Kontexte erfordern ein noch stärkeres Engagement. Die DEZA setzt in Zukunft mehr Mittel in fragilen Ländern ein als bisher, vor allem in Nordafrika, Myanmar und am Horn von Afrika. Es ist wichtig, bei einer sich verschlechternden Lage nicht aufzugeben, also «stay engaged» zu bleiben.

Die DEZA ist überzeugt davon, dass die Schweiz in fragilen Ländern einen wirksamen Beitrag leisten kann. Sie ist stark «im Terrain» verankert und gut vernetzt. Die Schweiz hat deshalb gute Voraussetzungen, um in fragilen Ländern und Regionen zu arbeiten. Ein Vorteil ist, dass die Schweiz keine Machtpolitik betreibt.

Was ist das Besondere an der Arbeit in fragilen Kontexten?
Arbeiten in fragilen Ländern und in Konflikten heisst für die DEZA nicht nur, unter schwierigen Bedingungen zu arbeiten, sondern es geht auch darum, auf die Ursachen einzuwirken, zu analysieren und Strukturen zu verändern. Anders ausgedrückt soll der ganze Kontext eines fragilen Landes in die Arbeit einbezogen werden, um nicht nur in Nischen tätig zu sein. Bei der Arbeit in einem fragilen Kontext werden oft alle Arbeitsinstrumente – Not- und Transitionshilfe sowie Entwicklungszusammenarbeit –angewendet. Wir haben erkannt, dass Friedensarbeit, Konfliktprävention und die Stärkung der Menschenrechte Teil des Engagements sein müssen.

Welche Arbeitsinstrumente und –strategien kommen bei Einsätzen in fragilen Kontexten zum Zug?
Die DEZA arbeitet in fragilen Kontexten mit dem konfliktsensitiven Programmmanagement, eine besondere Arbeitsmethodik für fragile Kontexte. Wichtig in fragilen Kontexten ist die sorgfältige Analyse der politischen Verhältnisse. Dabei wird analysiert, weshalb es in einem Land Fragilität oder Konflikte gibt, weshalb Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht funktionieren und was getan werden muss, um die Achtung der Menschenrechte durchzusetzen und eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung zu ermöglichen.

Welche Themenbereiche spielen beim Engagement in fragilen Kontexten eine vordergründige Rolle?
Die Palette ist breit. Es hängt vom Bedarf vor Ort ab; zum Beispiel Gesundheitsdienstleistungen, Bildung, Wasser oder Infrastruktur. Fragilität in Dürregebieten zeigt sich anders als in städtischen Slums und dementsprechend sind die Bedürfnisse anders gelagert.

Ein wichtiger Punkt ist die lokale Arbeit. Damit wird das Vertrauen zwischen der Bevölkerung und der Regierung aufgebaut. Reformen im Sicherheitssektor und die Sicherung von Lebens-sowie Erwerbsgrundlagen sind bei der Staatenbildung essentiell.

Welche Fähigkeiten muss ein DEZA-Mitarbeiter mitbringen, um in einem fragilen Kontext tätig sein zu können?
Belastbarkeit, Analysefähigkeit, Stressresistenz und Erfahrung in der Anwendung aller Instrumente der internationalen Zusammenarbeit sind wichtig, ebenso die Fähigkeit zum strategischen Denken, ein Gespür für Politik und die Zusammenhänge im Partnerland sowie Kenntnisse im Risikomanagement. Weiter gefordert ist die Fähigkeit, sich die notwendigen Informationen zu beschaffen und praktische Erfahrung aus der Arbeit in instabilen Ländern. Mitarbeiter mit einem solchen Background und entsprechenden Erfahrungen entwickeln sich zu Spezialisten und bleiben deshalb oft über mehrere Jahre in einem fragilen Kontext tätig – darauf baut die DEZA.

Ein wichtiger persönlicher Faktor ist ein inneres Feuer und eine innere Überzeugung. Mitarbeiter in fragilen Kontexten müssen zutiefst überzeugt sein von dem, was sie tun.

In welchen fragilen Kontexten haben Sie sich schon aufgehalten?
Ich habe viele fragile Länder und Regionen besucht, darunter Afghanistan, das Horn von Afrika, Länder in Lateinamerika, das Swat-Tal in Pakistan, Slums in Lateinamerika, die Region der grossen Seen, Haiti oder Ägypten. Kürzlich war ich in unruhigen Provinzen im Innern von Tunesien.

Gibt es Erfahrungen und Beobachtungen aus diesen Besuchen, die Ihnen geblieben sind und an die Sie heute noch zurückdenken?
Ja. Ich war beeindruckt von Menschen, die in fast hoffnungslosen Situationen leben und trotzdem nicht aufgegeben. Das sind gute Voraussetzungen für die Arbeit der DEZA. Mit einer kleinen Unterstützung können sie sich aus der Not befreien. Begegnungen mit solchen Menschen haben mich bewegt. Viele dieser Menschen haben Schreckliches erlebt und trotzdem ist in ihnen Hoffnung spürbar.

Ich kann ein konkretes Beispiel nennen: Im Swat-Tal in Pakistan habe ich Frauen getroffen, die alles verloren haben durch den Konflikt zwischen der pakistanischen Armee und den Taliban. Später haben Überschwemmungen den fruchtbaren Boden des Tales mit Geröll zugeschüttet und ihnen die Lebensgrundlagen genommen. Trotzdem haben sie praktisch neu angefangen und sich eine Existenz aufgebaut, beispielsweise mit einer Hühnerzucht. Solche Beispiele gehen mir nicht aus dem Kopf und auch lange später noch frage ich mich, was aus diesen Menschen geworden ist.

Beeindruckend ist auch das Engagement der DEZA-Mitarbeitenden und der Leute aus Partnerorganisationen. Für ihr grosses Engagement verzichten sie auf vieles und nehmen grosse Belastungen auf sich. Wer als Entwicklungshelferin oder -helfer in Afghanistan arbeitet, verzichtet auf ein Privatleben. Die Sicherheitsmassnahmen sind so streng, dass es keine Privatsphäre mehr gibt.

Herr Dahinden, danke für dieses Gespräch!
 

Zur Person:
Botschafter Martin Dahinden ist seit 2008 Direktor der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Zuvor war der 57-jährige promovierte Wirtschaftswissenschaftler Direktor für Ressourcen und Aussennetz im EDA (2004-2008) sowie Direktor des Genfer Zentrums für humanitäre Minenräumung (2000-2004). Seine Auslandsstationen waren Paris , Nigeria und New York.

Letzte Aktualisierung 13.01.2023

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