Artikel, 13.02.2013

«Die heutigen Konflikte unterscheiden sich wesentlich von Dunants Beschreibungen»

Die Opfer von Kriegen und bewaffneten Konflikten betreuen und ihre Würde schützen: Auch heute, 150 Jahre nach seiner Gründung, ist dies die Mission des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Die Schweiz ist nicht nur Sitzstaat des IKRK, sie ist auch der zweitgrösste Geldgeber. Das IKRK ist ausserdem der wichtigste internationale Partner für die Humanitäre Hilfe des Bundes. Wie arbeiten diese humanitären Akteure zusammen? Diese und andere Fragen beantwortet der Delegierte des Bundes für Humanitäre Hilfe, Manuel Bessler, aus Anlass des 150. Jubiläums des IKRK.

Am 17. Februar 1863 gründete Henri Dunant das «Internationale Komitee der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege». Die Grauen, die Dunant vier Jahre zuvor an der Schlacht von Solferino gesehen hatte, sein Einsatz für die Verwundeten und Sterbenden, die Hilfe von Frauen und Mädchen aus dem nahegelegenen Castiglione – diese Eindrücke bewegten ihn auch in den Jahren nach der Schlacht.
Er schrieb ein Buch über seine Erfahrungen in Solferino, veröffentlichte es auf eigene Kosten und verschickte es an Politiker und Militärführer. Dunant wollte die Betreuung und den Schutz von Kriegsopfern sicherstellen. Sein Engagement führte zur Gründung des Komitees und ein Jahr später zur Verabschiedung der Genfer Konventionen.

Die Mission der heute als Internationales Komitee vom Roten Kreuz bekannten Organisation ist geblieben: Das IKRK ist unparteilich, neutral und unabhängig; es schützt das Leben und die Würde der Opfer von Kriegen und bewaffneten Konflikten; und es versucht, Leid zu verhindern, indem es humanitäres Völkerrecht und die universellen humanitären Grundsätze fördert und stärkt.

«Die Sonne des 25. Juni beleuchtete eines der schrecklichsten Schauspiele, das sich denken lässt. Das Schlachtfeld ist allerorten mit Leichen von Menschen und Pferden übersät. In den Strassen, Gräben, Bächen, Gebüschen und Wiesen, überall liegen Tote und die Umgebung von Solferino ist im wahren Sinn des Wortes mit Leichen übersät. Getreide und Mais sind niedergetreten, die Hecken zerstört, die Zäune niedergerissen, weithin trifft man überall auf Blutlachen...»

Manuel Bessler, so beschrieb Dunant, was er vor mehr als 150 Jahren nach der Schlacht bei Solferino gesehen hat. Heute kennen wir ähnliche Bilder aus den Medien, die weltweit über die Folgen von Kriegen und bewaffneten Konflikten berichten. Die Notwendigkeit für den Schutz und die Betreuung von Opfern scheint auch 150 Jahre nach Solferino unverändert gross. Was hat sich seit der Gründung des IKRK geändert?
Die heutigen Konflikte sind viel komplexer und unterscheiden sich ganz wesentlich von den Beschreibungen Dunants der Schlacht von Solferino. Früher war ein Krieg eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit gut organisierten Armeen. Das Schlachtfeld war klar abgegrenzt, und die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilbevölkerung war einfach.
Die humanitären Folgen heutiger Konflikte sind auch komplexer geworden. Gewalt ist viel häufiger das Ergebnis schwerer Menschenrechtsverletzungen denn die Folge militärischer Auseinandersetzungen zwischen zwei Staaten. Nicht nur das Militär führt Krieg, sondern auch paramilitärische und terroristische Gruppen, die wegen ihrer mangelnden Einhaltung des humanitären Völkerrechts viel Leid anrichten.
Die moderne Kriegsführung setzt nicht mehr nur militärische Mittel ein, sie umfasst auch politische Sanktionen, Wirtschaftsembargos und psychologische Einschüchterung, die besonders die Zivilbevölkerung hart treffen. Auch die Technologie hat sich seit Solferino weiterentwickelt: Der Einsatz von Minen und chemischen Waffen hat weitreichende Folgen für die betroffene Bevölkerung, die auch nach einem Konflikt oder Krieg noch lange spürbar sind.

Hat sich die Wahrnehmung des IKRK und der humanitären Prinzipien über die Jahre geändert?
Seit der Gründung des IKRK hat sich der Respekt gegenüber dem IKRK und den humanitären Prinzipien stark geändert. Früher wurden die Prinzipien der Neutralität und Unabhängigkeit von allen Konfliktparteien anerkannt. Die humanitären Akteure konnten jenen Menschen helfen, die die Hilfe am nötigsten hatten. Mit der zunehmenden Radikalisierung der Konflikte werden die humanitären Akteure selber zur Zielscheibe von Angriffen, was die steigende Zahl an Verlusten und Todesfällen in den letzten Jahrzehnten deutlich macht. Diese Entwicklung gefährdet auch die Arbeit des IKRK und anderer humanitärer Organisationen. In den letzten Jahren wurde auch der Zugang zu den Opfern erschwert, wie beispielsweise in Syrien und Mali.

Nach den USA ist die Schweiz der zweitgrösste Geldgeber des IKRK. 2013 beläuft sich der Beitrag der Schweiz auf 114.5 Mio. CHF. Wofür wird das Geld eingesetzt?
Jedes Jahr werden für die Betriebskosten des IKRK-Hauptsitzes in Genf 70 Mio. CHF bereitgestellt. Kein anderes Land leistet einen so hohen finanziellen Beitrag an diese Ausgaben wie die Schweiz. Die vom Parlament genehmigten Finanzmittel sind an keine Bedingungen oder Einschränkungen geknüpft. Sie erlauben dem IKRK, seine Aktivitäten und Programme unter Wahrung seiner Unabhängigkeit durchzuführen.
Dieses Jahr erhöhte die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) ihren Beitrag an die IKRK-Einsätze von 40 auf 44.5 Mio. CHF. Wie diese Mittel eingesetzt werden sollen, ist Gegenstand eines konstruktiven Dialogs zwischen der DEZA und dem IKRK. Wir sind der Ansicht, dass auch Regionen Unterstützung erhalten sollen, die nicht genügend internationale Aufmerksamkeit erhalten und in denen die Opfer vernachlässigt werden. Ein Beispiel wäre die Zentralafrikanische Republik, wo Ende 2012 und Anfang 2013 erneut gewaltsame interne Konflikte ausgebrochen sind.
In den Diskussionen mit dem IKRK über die Verwendung der operationellen Mittel der DEZA weisen wir auch auf die regionalen Auswirkungen von Konflikten hin und auf den Einbezug der Nachbarländer. Die Präsenz der DEZA vor Ort spielt bei diesen Diskussionen, die grundsätzlich konstruktiv und gewinnbringend sind, eine zentrale Rolle.

Das IKRK wird als «wichtigster Partner des Bundes im Bereich der internationalen humanitären Hilfe bezeichnet». Was heisst das konkret?
Ein Drittel des Budgets der Humanitären Hilfe der Schweiz geht an das IKRK. Diese Zahl allein zeigt schon, wie wichtig uns das IKRK ist. Konkret erzielen wir dank dieser Partnerschaft überzeugende Ergebnisse mit unseren humanitären Programmen. In Libanon arbeiteten wir an einem gemeinsamen Projekt des IKRK und des Libanesischen Roten Kreuzes mit. Letzteres erhielt von der libanesischen Regierung den Auftrag, der Bevölkerung in Notsituationen Erste Hilfe bereitzustellen. 2600 Freiwillige meldeten sich, um in solchen Fällen Aufgaben wie die Pflege zu Hause und Soforthilfe in den Notfalldiensten zu übernehmen. Man musste diese Leute also ausbilden. Dabei wurden zwei Ansätze verfolgt: einerseits die Standardisierung der Pflege im ganzen Land und andererseits die Anpassung der Hilfe an die internationalen Normen.

Wie gestaltete sich die Ausbildung der Freiwilligen?
In einer ersten Phase bildete eine Gruppe von Gesundheitsfachleuten (Ärztinnen und Ärzte, Ambulanzfahrer und-fahrerinnen, Krankenpfleger und -pflegerinnen, pädagogische Fachkräfte) des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe in Libanon Instruktoren aus, die ihrerseits libanesische Ausbildnerinnen und Ausbildner instruierten, die schliesslich ihr Wissen an die Freiwilligen weitergaben. Am Ende wurde die Ausbildung der Freiwilligen überprüft und unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten an die internationalen Standards angepasst.
Dies ist ein Beispiel für eine Zusammenarbeit zwischen drei Partnern: zwischen dem IKRK, das die Ausbildung technisch und finanziell unterstützte, der DEZA, die die Fachleute des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe bereitstellte, und dem Libanesischen Roten Kreuz, das die Ausbildungsaktivitäten im eigenen Land koordinierte. Heute sind diese Helferinnen und Helfer in der Lage, die syrischen Flüchtlinge, die nach Libanon geflüchtet sind, zu betreuen. Dies ist ein Beweis für die Relevanz und Nachhaltigkeit dieser partnerschaftlichen Aktivitäten.

Können Sie ein aktuelles Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen dem IKRK und der Humanitären Hilfe nennen?
Wir arbeiten gegenwärtig an einer möglichen Partnerschaft mit dem IKRK für den Fall einer chemischen, biologischen, radiologischen oder nuklearen Katastrophe, auch CRBN-Katastrophe genannt. Die Frage ist, wie die humanitäre Hilfe darauf reagieren kann. Ich habe anfangs erwähnt, dass die humanitären Organisationen in einem in jeder Hinsicht immer schwierigeren Kontext arbeiten. Dazu gehört namentlich der Einsatz von Waffen mit diesen sogenannten CRBN-Komponenten. Die Versorgung der Opfer nach solchen Angriffen erfordert spezifische Instrumente und Ressourcen, dazu gehören auch qualifiziertes Personal und geeignete Ausrüstung. Das IKRK bat die Humanitäre Hilfe der Schweiz und andere auf diesem Gebiet spezialisierte Partner um die Bereitstellung von Fachleuten und Material. Mit dieser Unterstützung kann das IKRK seine Kompetenzen im Umgang mit CRBN-Katastrophen, die sich während bewaffneter Konflikte oder in anderen Gewaltsituationen ereignen können, erhöhen.

Welche Bedeutung hat es für die Humanitäre Hilfe des Bundes, dass Genf der Sitz des IKRK ist? Ergibt sich aus der Tatsache, dass die Schweiz Sitzstaat des IKRK ist, eine besondere Zusammenarbeit mit der Humanitären Hilfe?
Beide Tatsachen unterstreichen die humanitäre Tradition der Schweiz. Ihr besonderer Status als Depositarstaat der Genfer Konventionen sowie die Präsenz des IKRK und der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften, die alle ihren Sitz in Genf haben, erhöhen den Status von Genf als Wiege des Humanitarismus.

Die Aufgabe des IKRK ist es, das Leben und die Würde der Opfer von Konflikten zu schützen und ihnen zu helfen. Die Humanitäre Hilfe des Bundes unterstützt das IKRK u.a. auch in dieser Aufgabe. In vielen Ländern ist jedoch der Zugang zu den Opfern schwierig bis unmöglich, selbst für das IKRK. Welche Möglichkeiten bleiben dann den humanitären Akteuren, um Opfer zu schützen und ihnen zu helfen?
Die Frage des Zugangs ist eng mit der Achtung des humanitären Völkerrechts verknüpft. Als neutrales Land und als Depositarstaat der Genfer Konventionen trägt die Schweiz hier eine gewisse Verantwortung. Sie ist angehalten, die Staaten, aber auch die bewaffneten Konfliktparteien, an die Einhaltung dieses Rechts zu erinnern. Denn in bewaffneten Konflikten ermöglicht das humanitäre Völkerrecht den Zugang zu den Opfern, den Schutz von medizinischen Versorgungseinsätzen und die Achtung der humanitären Akteure.
Der Zugang zu den Opfern hängt aber auch von den finanziellen Ressourcen ab, die den humanitären Organisationen für ihre Einsätze zur Verfügung stehen. Nehmen wir als Beispiel die anhaltende Syrienkrise: Die Kosten für die Verteilung der humanitären Hilfe an die Flüchtlinge und andere betroffene Personen sind beträchtlich und dürfen auf keinen Fall unterschätzt werden. Die Schweiz leistet konsequente finanzielle Unterstützung, damit die humanitären Organisationen ihre Arbeit fortsetzen und den Opfern die nötige Hilfe zukommen lassen können. An der jüngsten Geberkonferenz in Kuwait sicherte sie für die Syrienkrise weitere 10 Mio. CHF zu. Damit erhöht sich ihr Beitrag seit Ausbruch des Konflikts auf 30 Mio. CHF.

Viele Mitarbeitende der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit und Mitglieder des Schweizerischen Korps für Humanitäre Hilfe sind ehemalige IKRK-Delegierte. Welche Vorteile bringt die IKRK-Erfahrung für die Arbeit in der DEZA und im SKH?
Das IKRK ist die einzige Organisation, die einen internationalen Auftrag hat, der auf den Genfer Konventionen beruht. Dort lernt man das humanitäre Handwerk von A bis Z, von den einfachen Aufgaben bis hin zu sehr sensiblen Aufgaben wie dem Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten.

Das IKRK ist nach schweizerischem Recht eine private Vereinigung, die einen internationalen Auftrag hat und weltweit anerkannt wird. Es stützt seine Arbeit auf die Grundsätze der humanitären Hilfe ab, d.h. auf Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität. Es erinnert immer wieder an diese Grundsätze und setzt sie um. Darüber hinaus ist das IKRK eine gute Schule, denn es vermittelt auch die ethischen Grundlagen dieses Handwerks.

Die vielen ehemaligen Mitarbeitenden des IKRK, die bei der Humanitären Hilfe der Schweiz arbeiten, tragen zur Stärkung dieser Grundsätze und Kenntnisse in unserer eigenen Institution bei, die diese Werte auch teilt. Bei der Wahrnehmung unserer Aufgaben können wir folglich auf ein hoch qualifiziertes Personal zählen, das mit den humanitären Grundsätzen vertraut ist.

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Letzte Aktualisierung 13.01.2023

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