10.12.2016

Orateur: Pascale Baeriswyl

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Gäste des Human Rights Film Festival Zürich,
Liebe Verfechterinnen und Verfechter der Menschenrechte,
Liebe Cinéphile –

Welcome to our international guests Sanam Anderlini (ICAN/Georgetown) and Hanny Megally (NYU/CIC)

Stellen Sie sich vor: Djalal, 31 Jahre alt. Er stammt aus einer Grossfamilie in Algerien und verlässt sein Land, um in Paris als Bäcker zu arbeiten. „Es war sein Traum, einen Job zu haben, vielleicht später ein Haus mit einer Familie", sagt sein Bruder über ihn. Djalal kommt nach Frankreich, um sich eine Zukunft zu schaffen. Doch es kommt anders: Djalal stirbt im Kugelhagel in einem Pariser Konzertlokal.

Stellen Sie sich vor:  Samy, 28 Jahre alt, Franzose und ebenfalls algerischen Ursprungs. Er stammt aus einer gut integrierten Einwandererfamilie in Paris. Sein Vater ist Geschäftsmann und Liebhaber der französischen Literatur. Seine Mutter eine engagierte Feministin. Er geht an die Uni, bricht ab und arbeitet anschliessend bei den Pariser Verkehrsbetrieben. Er beginnt, die Kleidung der Salafisten zu tragen, reist nach Syrien und kämpft als sog. foreign fighter für den IS. Sein Vater versucht verzweifelt, ihn nach Hause zu holen. Dann kommt Samy von selber zurück und erschiesst Dutzende von Menschen im Pariser Konzertlokal, in dem auch Djalal stirbt. Danach sprengt er sich in die Luft.

Cut  (würde man an diesem Punkt auf einem Filmset rufen).

Wäre diese Geschichte tatsächlich bloss der Plot eines Spielfilms, hätten wir sie wohl als etwas gekünstelt oder überdramatisch kritisiert. Doch Sie haben es erraten: Die Geschichte ist keine Fiktion, sondern das wahre Schicksal zweier junger Männer, die im Terrorangriff auf das Pariser Bataclan am 13. November 2015 ums Leben kamen. Als Opfer und Täter.

„What’s the difference between fiction and reality? Fiction has to make sense”, schreibt der Autor Tom Clancy. To make sense – genau das versuchen wir nun seit dem Massaker im Bataclan, seit Charlie Hébdo oder den Terrorangriffen in Brüssel, Nizza, Istanbul, Tunis und allen anderen traurigen Schauplätzen, von denen die meisten in Afrika oder in der arabischen Welt liegen. Was unterscheidet Samy und Djalal? Warum radikalisiert sich der eine und der andere nicht? Was macht Samy zum Massenmörder? Und was können wir tun, um solche schlimmen Ereignisse zu verhindern?

Ich will dem Film und der anschliessenden Diskussion über die Prävention von gewalttätigem Extremismus nicht vorgreifen. Ich  bezweifle allerdings, dass es eine „klassische terroristische Karriere“, ein generelles Profil des Foreign Fighters gibt. Oder dass wir die sozialen Hintergründe oder politischen Bedingungen, die zur Radikalisierung eine Person führen, abschliessend aufschlüsseln und verstehen können. Mit einfachen Rezepten kommen wir nicht weiter. Sie führen zur Stigmatisierung ganzer Personengruppen oder Minderheiten. Die Gewissheit, mit welcher jeweils monokausal und wahlweise der Islam, der Postkolonialismus oder die Frustration der Globalisierungs-Verlierer verantwortlich gemacht werden, tönt für mich wie das sprichwörtliche Pfeifen im dunklen Wald, mit dem sich unsere verunsicherte Gesellschaft Mut zu machen versucht. Die Zusammenhänge sind komplizierter, ja beunruhigender: Samy könnte unser Nachbar oder Arbeitskollege sein. Rakka liegt näher bei Zürich als bspw. Reykjavik. Und das Bataclan ist ein Kulturort, wie das Riff Raff hier in Zürich, einfach ein bisschen grösser.

Es ist diese Komplexität der Wirklichkeit und diese – zumindest auf den ersten Blick – Beliebigkeit der Orte, der Täter und der Opfer, die uns irritiert. Und als Individuen, Staat und Teil einer internationalen Gemeinschaft, die sich den Grundrechten, der Demokratie und dem Rechtsstaat verpflichtet fühlt, müssen wir dem entschieden entgegen treten.

Mit einem Aktionsplan zur Prävention von gewalttätigem Extremismus versucht die Schweiz die strukturellen Ursachen und den Nährboden der Radikalisierung anzugehen und die Widerstandsfähigkeit des Einzelnen sowie der Gemeinschaft zu stärken. Ausgrenzung, Ohnmacht, das Gefühl von Ungerechtigkeit und Chancenlosigkeit, das sind zumindest einige der Ursachen und Treiber der Radikalisierung. Entsprechend setzen wir an mit Programmen zur Schaffung von sozio-ökonomischen Perspektiven vor allem für Jugendliche, mit Dialogplattformen zur besseren Integration, mit der Stärkung transparenter Institutionen, welche Rechte und Rechtsstaatlichkeit garantieren. Und wir fördern die Menschenrechte in der Schweiz und im Ausland als einer der fünf Pfeiler der Aussenpolitik, wie das in unserer Bundesverfassung gefordert wird.

Es freut mich deshalb besonders, diesen 10. Dezember, den Internationalen Tag der Menschenrechte, am Human Rights Film Festival in Zürich mit Ihnen feiern zu können. Heute ist es genau 68 Jahre her, seit die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unter dem Eindruck der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs verabschiedet hat. Und wenn neuerdings kritisiert wird, die Menschenrechte seien eine jüngere Erfindung des Westens oder der Kolonialmächte und nicht universell, so erlaube ich mir darauf hinzuweisen, dass deren Ursprünge bis in die Antike und quer durch die Kulturen und Religionen reichen. Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung oder die französische Revolution mögen ein Grundrechtekonzept geprägt haben. Verschiedentlich wird aber auch der altpersische Kyros-Zylinder aus dem 6. Jahrhundert vor Christus als erste Menschenrechtserklärung bezeichnet. Und bei der Abfassung der UNO-Erklärung, die am 10. Dezember 1948 von 48 Staaten angenommen wurde, spielten unter der Leitung der Präsidentenwitwe Eleanor Roosevelt unter anderem der libanesische Politiker Charles Malik und der chinesische Philosoph Peng-chun Chang eine wesentliche Rolle. Auch hier in Zürich – das muss sogar ich als Baslerin Ihnen zugestehen - wurden schon früh Menschenrechtsforderungen laut, so beispielsweise während des Landesstreiks im Jahr 1918.

Heute ist der Respekt der Menschenrechte in der gesamten Schweiz nicht nur rechtlich, sondern auch gesellschaftlich fest verankert. Für uns sind sie zur Selbstverständlichkeit geworden. Und zwar so sehr, dass wir riskieren, sie nicht mehr genügend sorgfältig wahr zu nehmen und zu pflegen. Doch Rechte bedeuten auch Verantwortung.

Ich will es klar und deutlich sagen: Wenn Sie heute einigermassen sicher ins Riff Raff kommen konnten, ganz einfach weil Sie Lust dazu hatten; wenn Sie hier die internationalen Filme schauen können, die Sie sehen wollen; und wenn sie anschliessend ohne Angst darüber sagen oder schreiben dürfen, was sie wollen; wenn sie ihre Regierungsvertreter wählen, abwählen oder sich selber wählen lassen können; wenn sie vor Gericht einen fairen Prozess einfordern dürfen; wenn der Staat sie vor körperlichen Misshandlungen schützen muss – nota bene auch vor Misshandlungen durch staatliche Akteure selber; wenn Sie frei ein Unternehmen gründen können, wenn Sie ein Eigentum erwerben dürfen, und Ihnen das nicht willkürlich weggenommen werden kann; wenn Sie frei forschen und lehren können; dann immer darum, weil sie sich auf Ihre Grund- und Menschenrechte verlassen können. Das ist nicht selbstverständlich. Nicht hier und erst Recht nicht an vielen anderen Orten der Welt.

Ohne Menschenrechte wäre Ihr Leben nicht nur langweiliger und ärmer; es wäre im schlimmsten Fall geprägt von Furcht, Schmerz, oder Flucht; und möglicherweise wäre auch ziemlich kurz. Auf eine Formel gebracht: Menschenrechte sind nicht alles im Leben, aber ohne Menschenrechte ist alles nichts. Bitte nehmen sie also Ihre Verantwortung wahr und tragen Sie dazu bei, diesen unseren Schatz zu behüten. Kritisieren Sie Entscheide der Regierung, von Parlamenten oder Gerichten, wenn Sie damit nicht einverstanden sind. Kritisieren Sie sie meinetwegen sogar heftig. Aber seien Sie sich bewusst, dass es unsere Institutionen schwächt, wenn man sie grundsätzlich in Frage stellt; und dass sie dann ihre wichtigen Funktionen für die Gesellschaft nicht mehr ausüben können.

Auch im Kampf gegen gewalttätigen Extremismus müssen wir uns hüten, aus dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus die Menschenrechte zu schwächen. Es ist unbestritten, dass wir uns schützen müssen – doch immer unter Respektierung der fundamentalen Rechte jedes Einzelnen. Wenn wir anfangen, im Namen der Terrorbekämpfung Freiheiten stark zu beschneiden und Grundrechte zu missachten, dann hat der Terrorismus bereits gewonnen; dann ist das Attentat auf die Menschlichkeit selber gelungen. Diesen Gefallen wollen und dürfen wir den Bombenlegern nicht tun.

Bald 70 Jahre nach der Allgemeinen Menschenrechtserklärung sind knapp 100 Konventionen verabschiedet worden, und zwar auf allen Kontinenten. Nie zuvor waren Bildung, Wohlstand, Lebenserwartung, Mobilität und Vernetzung der Menschen so hoch wie heute. Von der internationalen Gemeinschaft werden die Menschenrechte mittlerweile als Bedingungen sowohl für nachhaltige Entwicklung wie auch für Frieden und Sicherheit anerkannt. Oder wie es der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan formulierte: “Es gibt keine Entwicklung ohne Sicherheit; es gibt keine Sicherheit ohne Entwicklung; und es gibt weder Entwicklung noch Sicherheit ohne Menschenrechte.“

Trotzdem bestehen enorme Herausforderungen. Der aktuelle internationale Kontext ist geprägt durch den Verlust von Stabilität, durch geopolitische Spannungen und regionale Brandherde. Mit rund 40 bewaffneten Konflikten haben wir heute die höchste Zahl seit 15 Jahren. Es gibt mehr als 60 Millionen Vertriebene; so viele, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. In diesem Umfeld kommen Menschenrechte wieder stärker unter Druck: In über 130 Ländern weltweit wird gefoltert. Kritik an der Repression gegen politische Oppositionelle, an Folter und Verschwindenlassen von politischen Gegnern wird bspw. als Einmischung in innere Angelegenheiten eines souveränen Staates zurückgewiesen. Andere berufen sich auf kulturelle und lokale Bräuche bspw. wenn die Verletzungen von Frauenrechten legitimiert werden sollen.

Dies zeigt uns, wie wichtig es ist, dass sich die Schweiz aktiv und umfassend für Menschenrechte engagiert. Die Willkür von Gewalt macht vor keiner Landesgrenze halt. Und die Schweiz tut einiges: Wir engagieren uns für die Abschaffung der Todesstrafe, die Stärkung von Folterprävention, für Frauenrechte, Rechte von Migrantinnen und Migranten, für Kinderrechte oder für den Schutz von Minderheiten. Wir engagieren uns im Kampf gegen Korruption und für gute Regierungsführung. Wir arbeiten mit global tätigen Unternehmen und anderen privaten Akteuren wie z.B. Sportverbänden zusammen, um die Menschenrechte zu stärken. Und wir tun dies partnerschaftlich mit der Zivilgesellschaft oder mit Kulturinstitutionen.

Und so arbeiten wir auch mit dem Human Rights Film Festival Zürich zusammen, das für seine zweite Ausgabe erneut ein hervorragendes Programm zusammengestellt hat. Das EDA gehört seit Beginn zu den Partnern des Festivals, das einen wichtigen Beitrag leistet, um die Menschenrechte in unserem Bewusstsein und in unserer Praxis zu verankern. Es lädt uns mit „allen Mitteln der Kunst“, mit Fiktion und Reportagen, mit Beiträgen von Forschung und Politik zum Dialog über Menschenrechte ein. Dieser Einladung folgen wir sehr gerne.

Unser Engagement lohnt sich. Und unser Engagement ist nötig. Trotz des aktuell etwas düsteren Bilds bin ich durchaus optimistisch. Djalals Traum eines Jobs, eines Hauses, einer Familie ist für ihn traurigerweise Traum geblieben. Aber gerade deshalb müssen wir alles dafür tun, dass solche Träume zur Realität werden können. Überall. Denn wie Shirin Ebadi, die iranische Richterin und Menschenrechtsaktivistin, die 2003 als erste Muslima den Friedensnobelpreis erhalten hat, einmal sagte: „Human rights is a universal standard. It is a component of every religion and every civilization.” 

Ich danke Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen einen spannenden Film, der im Anschluss zu einer anregenden Diskussion inspiriert. 


Dernière mise à jour 29.01.2022

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