Artikel, 05.10.2015

Am 12. und 13. Oktober 2015 wird in Genf eine Bilanz zur Nansen Initiative präsentiert, die 2012 von der Schweiz und Norwegen lanciert worden war. Die Mitglieder der Initiative sammelten in den letzten drei Jahren gute Praktiken von Ländern, die sich mit Vertriebenen infolge von Naturkatastrophen konfrontiert sahen. Walter Kälin, Professor für Völkerrecht an der Universität Bern und Gesandter der Präsidentschaft der Nansen Initiative, spricht über diesen Ansatz und die künftigen Herausforderungen.  

Walter Kälin hält eine Powerpoint-Präsentation in einem Konferenzraum
Walter Kälin hat zahlreiche Regionalkonsultationen durchgeführt, wie hier in Nepal. Initiative Nansen

Ziel der 2012 von der Schweiz und Norwegen ins Leben gerufenen Nansen Initiative ist es, in diesen drei Jahren genauere Erkenntnisse über Fluchtbewegungen zu gewinnen, die auf Katastrophen und den Klimawandel zurückzuführen sind. Konkret organisierten die Initiative Konsultationen mit Staaten und der Zivilgesellschaft in Weltregionen, die mit dieser Problematik konfrontiert sind. Der Dialog ermöglichte einen wertvollen Erfahrungsaustausch und den Aufbau von Knowhow über Dynamiken, die bei solchen Vertreibungen eine Rolle spielen.

Im Rahmen der Nansen Initiative wurden diese Überlegungen in einer Agenda zusammengetragen, die den Schutz von international Vertriebenen infolge von Katastrophen und Klimaänderungen gewährleisten soll. Die Agenda identifiziert gute Praktiken betreffend  rechtliche, humanitäre und präventive Instrumente. Am 12. und 13. Oktober 2015 wird die Agenda an einer internationalen Konferenz in Genf zur Diskussion und Validierung vorgelegt. Nachfolgend erklärt Walter Kälin, Professor für Völkerrecht an der Universität Bern und Gesandter der Präsidentschaft der Nansen Initiative, worum es geht.


Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus den regionalen Konsultationen, die Sie in den letzten drei Jahren in verschiedensten Weltgegenden durchgeführt haben?

Der regionale Ansatz war zentral für die Arbeit der Initiative. Er hat gezeigt, dass die Situationen und die Bedürfnisse je nach Region und sogar je nach Gemeinschaft sehr unterschiedlich sein können. So haben wir festgestellt, dass sich Opfer von Naturkatastrophen meistens in der Nähe ihrer Heimat niederlassen, weil sie immer hoffen, eines Tages wieder nach Hause zurückkehren zu können. In Nepal beispielsweise konnten die Menschen nach dem Erdbeben im März 2015 Zuflucht in Indien suchen, da zwischen diesen beiden Ländern ein Abkommen über den freien Personenverkehr besteht. In Südostasien bleiben nach den Katastrophen im Allgemeinen vor allem intern Vertriebene zurück. Hingegen befassen sich die Menschen gewisser Pazifikinseln bereits heute mit der Frage, wohin sie auswandern sollen, wenn der Tag kommt, an dem ihre Insel im Wasser versinkt. In Mosambik und Malawi verursachen Überschwemmungen regelmässig Migrationen zwischen den beiden Ländern, während am Horn von Afrika die nomadischen Hirten aufgrund von Dürren gezwungen sind, ihr Vieh ausserhalb der Landesgrenzen weiden zu lassen. Eine wesentliche Erkenntnis aus unseren Konsultationen ist, dass im Laufe der letzten zehn Jahre mehr als 50 Länder weltweit mit Menschen konfrontiert waren, die aufgrund von Katastrophen oder infolge des Klimawandels in ihrem Land Zuflucht suchten oder die von ihnen nicht ausgeschafft wurden. Das ist eine grosse Zahl.

Können Sie Beispiele von guten Praktiken nennen, die Sie bei Ihren Konsultationen gesammelt haben?

Was den rechtlichen Schutz der Vertriebenen betrifft, ist der Fall Somalia erwähnenswert. Vertriebene aus diesem Land erhielten 2011 und 2012 dank der Flüchtlingskonvention der Afrikanischen Union in ihren Nachbarländern Asyl. Die wegen des Konflikts und der Dürre vertriebenen Menschen wurden somit auf der Basis dieser Konvention aufgenommen werden. Nach dem Erdbeben von 2010 in Haiti behandelte Kanada Gesuche um Arbeitsbewilligungen und Familienzusammenführungen von Personen aus Haiti prioritär, und Brasilien gewährte ihnen Schutz und eine schnelle Arbeitsbewilligung. Schliesslich verfügen die meisten Länder Mittelamerikas bereits über besondere rechtliche Schutzmechanismen für Naturkatastrophen. Solche Mechanismen haben Modellcharakter. Gleichzeitig ist es unabdingbar, in Massnahmen zur Prävention von Katastrophen zu investieren, um die Menschen vor Überschwemmungen, Erdbeben oder dem steigenden Meeresspiegel zu schützen, damit  sie nicht flüchten müssen. Unsere Agenda gibt einen Überblick über all diese guten Praktiken.

Diese Agenda wird an der Abschlusskonferenz der Nansen Initiative präsentiert, der «Globalen Konsultation», die am 12. und 13. Oktober 2015 in Genf stattfindet. Welche Erwartungen haben Sie?

Die Agenda schlägt verschiedene Ansätze vor: Mechanismen zur Bewältigung grenzüberschreitender Fluchtbewegungen bei Katastrophen und identifiziert rechtliche Instrumente zum Schutz dieser Vertriebenen sowie  Präventionsmassnahmen, damit diese Familien in ihrer Heimat bleiben können. Die Agenda ist aber rechtlich nicht bindend. Wir erwarten deshalb, dass dieses Dokument in Genf die Unterstützung vieler Staaten findet, die an dieser internationalen Konsultation teilnehmen und hoffen, dass dann einzelne Staate, aber auch regionale und internationale Organisationen, unsere Empfehlungen vor Ort umsetzen. Die Nansen Initiative wird als solche Ende Dezember 2015 abgeschlossen, und bis dahin bleibt noch viel zu tun, damit wir konkrete Vorschläge für das weitere Vorgehen vorlegen können. Wir hoffen ausserdem, dass wir vor der Klimakonferenz von Paris im kommenden Dezember die Akteure für die Frage der «Klimaflüchtlinge» sensibilisieren können, damit dieses Thema in den Schlussvereinbarungen erscheint.

Kein Rechtsstatus

Jedes Jahr sind durchschnittlich 26 Millionen Menschen gezwungen, nach Überschwemmungen, tropischen Stürmen, Erdbeben, Dürren oder anderen Katastrophen ihr Zuhause zurückzulassen. Die meisten dieser Vertriebenen bleiben im eigenen Land. Aufgrund des Klimawandels dürften solche Wanderungsbewegungen jedoch zunehmen und vermehrt auch grenzüberschreitende Dimensionen annehmen.

Wenn diese Vertriebenen in ein anderes Land flüchten, ist ihr Status rechtlich nicht festgelegt. Sie gelten weder als «Klimaflüchtlinge»,  da dieser Status im Völkerecht nicht existiert und dafür nachweisen müssten, dass sie Opfer des Klimawandels sind. Sie geniessen somit derzeit keinen besonderen Schutz, wenn sie ins Ausland flüchten müssen. Mit der Lancierung der Nansen Initiative im Jahr 2012 haben sich die Schweiz und Norwegen dafür engagiert, den Schutz dieser Personen zu verbessern.

Letzte Aktualisierung 13.01.2023

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