Schweiz–Nepal: Von Brücken und dem Weg zum Föderalismus

Von der Monarchie zur Verabschiedung einer föderalistischen Verfassung im Jahr 2015 hat sich Nepal in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Die Schweiz, die seit über 60 Jahren in Nepal tätig ist, hat ihre Entwicklungszusammenarbeit im Sinne der Wirksamkeit immer wieder angepasst. Im Vorfeld der Reise von Patricia Danzi, Direktorin der DEZA, und Barbara Böni, Chefin der Sektion Asien, nach Kathmandu, werfen wir einen Blick auf die Vergangenheit und die Zukunft des Schweizer Engagements im Land am Himalaja.

Drei Nepalesinnen überqueren lächelnd eine Brücke.

Brücken sind ein Symbol für Verbindungen und ein wichtiges Instrument für die Entwicklung Nepals. © Thibault Grégoire

«Die Schweiz hat sich in Nepal ganz besonders engagiert und die Beiträge verschiedener Institutionen zeitigen durchaus beachtliche Ergebnisse. Das ausgeprägte Interesse an Nepal erklärt sich nicht zuletzt durch die Ähnlichkeit zwischen dem Gebirgsland und der Schweiz. Trotz offensichtlicher Unterschiede schafft dies eine gewisse Verbundenheit».

Natürliche Nähe. Fruchtbare Zusammenarbeit. Eine Beziehung, die es langfristig zu pflegen gilt. So lauteten die Ausführungen von Raymond Probst, des damaligen Chefs der Sektion Politischer Dienst West, in einer Notiz an Bundesrat Wahlen im Juli 1962. Ein Jahr später wurde Nepal zu einem Schwerpunktland der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.

Seitdem wurden die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Nepal fortgesetzt und in mancher Hinsicht vertieft. Know-how-Transfer und eine angemessene Anpassung an die nepalesische Realität sind die Schlüsselbegriffe für einen wirksamen Beitrag der Schweiz im Himalajastaat.

Kurz vor ihrer Abreise nach Kathmandu und der Veröffentlichung der neuen Nepalstrategie 2023–2026 beantwortet Barbara Böni, Chefin der Sektion Asien, drei Fragen zu Gemeinsamkeiten und Zukunftsperspektiven.

3 Fragen an Barbara Böni

Porträt von Barbara Böni.
Barbara Böni, Chefin der Sektion Asien der DEZA. © DEZA

Aus der Sicht des Alpenlandes Schweiz wird Nepal vor allem mit dem Himalaja in Verbindung gebracht. Können Sie diese Sichtweise relativieren und uns von anderen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern berichten?

Wer an Nepal denkt, denkt oft tatsächlich zuerst an hohe Berge wie den Everest oder die Annapurna-Kette. Viele Schweizer Touristinnen und Touristen machen dort Trekkingtouren: 2022 waren es per August bereits 1671. Es gibt aber noch viele weitere Ähnlichkeiten. Geografisch gesehen sind die Schweiz und Nepal Binnenstaaten mit vielen Fliessgewässern. Dies begünstigt den Wassersektor, Staudämme und die Stromerzeugung, schafft aber auch Herausforderungen wie Überschwemmungen oder Erdrutsche. Beide Länder haben eine kulturell und sprachlich vielfältige Bevölkerung, auch wenn Nepal mit 30 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, 125 ethnischen Gruppen und Kasten und 123 gesprochenen Sprachen deutlich vielfältiger ist als die Schweiz – und in diesem Sinne mehrere «Röstigraben» aufweist.

Auf politischer Ebene zeichnen sich sowohl Nepal als auch die Schweiz durch die Achtung der Demokratie und der Menschenrechte sowie durch ein föderales politisches System aus. Die nepalesische Verfassung von 2015 orientiert sich übrigens am politischen System der Schweiz, was sich in den drei Ebenen des Staates zeigt (Bund, Provinz und Gemeinde). Gerade deshalb wird die Unterstützung der Schweiz in Nepal zur Klärung der Rollen und Verantwortlichkeiten auf jeder dieser drei Ebenen sehr geschätzt. Dazu gehören auch die entsprechenden Planungs-, Budgetierungs- und Koordinationsprozesse.

Der Tourismus ist im Übrigen sowohl für Nepal als auch für die Schweiz ein florierender Sektor. Die vielen Nepal-Reisenden aus der Schweiz haben mit der Zeit ihre Spuren hinterlassen: Auf der Speisekarte vieler Gästehäuser entlang der Trekkingrouten findet man tatsächlich Rösti! 

Im Laufe der Zeit hat sich die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Nepal an die sich verändernde Realität angepasst. Warum ist heute eine systemische Zusammenarbeit von Bedeutung?

Nepal hat bemerkenswerte Fortschritte beim Wirtschaftswachstum, bei der Armutsbekämpfung und beim Aufbau eines demokratischen Staates gemacht. Die Schweiz hat deshalb ihren Ansatz angepasst. Wir konzentrieren uns nun stärker auf den Kapazitätsaufbau und gute Rahmenbedingungen für ein integratives und nachhaltiges Wachstum.

Die Schweiz unterstützt ausserdem die Stärkung der Strukturen im Sinne der neuen Verfassung mit Schwerpunkt auf dem neuen föderalen System Nepals, das jenem der Schweiz mit Kantonen und Gemeinden ähnelt. So müssen auf der Ebene der Provinzen und der lokalen Regierungen viele neue Gesetze und Richtlinien ausgearbeitet und umgesetzt werden. Hier legen wir grossen Wert auf die Förderung der sozialen Inklusion und der Geschlechterdimensionen. Dieser Ansatz der systemischen Stärkung ist wichtig, um Nepal in der Zeit nach der Pandemie und angesichts einiger politischer Versuche, die notwendigen Reformen zu verhindern, weiter zu unterstützen.

Secure investments, prepare for the future: so lautet das Motto des Kooperationsprogramms für Nepal 2023–2026. Was ist neu?

Neu gegenüber früher ist eindeutig der viel stärkere Fokus auf die Entwicklung des Privatsektors. Die Schweiz fungiert in Sachen Wissens- und Technologietransfer als Vermittlerin, zum Beispiel in den Bereichen Landwirtschaft, Berufsbildung, Tunnelbau und Förderung von KMU. Ausserdem bietet sie innovative Finanzierungslösungen an, mit denen privates Kapital zur Erreichung der Entwicklungsziele mobilisiert werden soll.

Angesichts der grossen Gefahren im Zusammenhang mit dem Klimawandel, denen Nepal ausgesetzt ist, wie zum Beispiel das Abschmelzen der Gletscher, wird die Umweltdimension deutlich gestärkt. So unterstützt die Schweiz die Erarbeitung von Richtlinien für den Umgang mit Katastrophenrisiken oder einen naturnahen Tourismus.

Klar ist, dass wir uns laufend an die Veränderungen des nepalesischen Kontexts anpassen und flexibel bleiben müssen. Nur so können die im Laufe der Jahre getätigten Investitionen langfristig gesichert und effektiv genutzt werden, um eine prosperierende und nachhaltige Zukunft aufzubauen, wie es sich die Nepalesinnen und Nepalesen wünschen.

«Alles ist noch zu tun»

Lal Bahadur Koli beim Melken einer Wasserbüffelkuh.
Lal Bahadur Koli gehört zu den zahlreichen Nepalesinnen und Nepalesen, die vom Programm für sichere Migration profitieren, welches die DEZA unterstützt. © DEZA/Helvetas

Lal Bahadur Koli ist ein junger Mann aus der Region Dhangadhi im Westen Nepal. Seine bescheiden lebende Familie ist dort seit Generationen ansässig. Sie hat die Anfänge der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Nepal miterlebt. Seine Eltern waren 1955 ausserdem Zeugen der Krönung von König Mahendra Bir Bikram Shah in Kathmandu, zu der auch der Schweizerische Gesandte in Indien, Clemente Rezzonico, eingeladen war. Er berichtete dem Bundesrat im Anschluss an seinen Aufenthalt: «Alles ist noch zu tun».

Zu Beginn bestand die Schweizer Hilfe vor allem in der Vermittlung von technischem Wissen, das auf die alltäglichen Bedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet war, insbesondere bei der Käseproduktion und der Landwirtschaft. In den 1970er-Jahren stand der effiziente Anbau von Kartoffeln im Vordergrund. Mit Schweizer Fachwissen wurde damals erforscht, welche Kartoffelsorte in dem bergigen Land am besten gedeiht. Das Projekt ermöglichte es der Elterngeneration von Lal Bahadur, die Ernteerträge zu steigern, und dem Land, die Selbstversorgung mit diesem wichtigen Nahrungsmittel zu erreichen.

Brückenbau fördert den Zusammenhalt in der Gesellschaft

Auf einer Brückenbaustelle werden drei Arbeiter bei ihrer Arbeit fotografiert.
Durch den Bau von Brücken hochwertige Verbindungen herzustellen, bedeutet auch, den wirtschaftlichen Wohlstand der nepalesischen Bevölkerung zu fördern. © Thibault Gregoire

Die Landwirtschaft, eine der Haupteinnahmequellen des Landes kann nicht unendlich expandieren – die Anbauflächen sind begrenzt. Auch die Strassen- und Erschliessungsinfrastruktur im Berggebiet sowie der einfache Zugang der Dorfbevölkerung zu Basisdienstleistungen waren problematisch. Für die Entwicklung Nepals war dies ein wichtiger Ansatzpunkt. Mit dem anfänglichen Ziel, die Bevölkerung im Alltag zu unterstützen, brachte die Schweiz in den 1960er-Jahren ihr Know-how für den Bau von Fussgängerbrücken ein. Für die Elterngeneration von Lal Bahadur bedeutete diese Hilfe eine erhebliche Zeitersparnis und damit eine Steigerung der Anbauproduktivität.

In den 1990er-Jahren änderte sich dieser Ansatz. Um die Partizipation zu fördern, wurde die Generation von Lal Bahadur stärker in die Brückenbauprojekte eingebunden. Als Tagelöhner konnte er von der Beschäftigung im Rahmen dieser Projekte profitieren – sowohl im Bausektor als auch in der Landwirtschaft, bei der die bessere Zugänglichkeit riesige Vorteile brachte.

Seit 2015 leistet die Schweiz im Bereich Infrastruktur eher auf systemischer Ebene Unterstützung. Im Auftrag der nepalesischen Regierung arbeitet die DEZA unter anderem daran, die Rollen zu definieren, den rechtlichen, politischen und regulatorischen Rahmen im Brückenbau zu schaffen und dabei zu helfen, die institutionellen Kapazitäten der Provinz- und Lokalbehörden in diesem Sektor zu verbessern.

Lal Bahadurs Eltern haben 1961 den Bau der ersten Fussgängerbrücke durch die DEZA miterlebt. Ihr Sohn und ihre Enkelkinder profitieren heute von den Vorteilen der 9000 Infrastrukturbauten, die seither errichtet wurden und von rund 16 Millionen Menschen genutzt werden. Im Durchschnitt überqueren täglich 1,6 Millionen Personen diese Brücken, die nicht nur die Wege verkürzen, sondern auch dazu beitrugen, dass die Zahl der Schulbesuche um 16 Prozent anstieg. Den drei Kindern von Lal Bahadur und den Schulkindern im ganzen Land erleichtern die Brücken somit den Zugang zu Bildung.

Sichere Auswanderung, bei der Ausreise und der Rückkehr

 Nepalesen stehen mit ihrem Gepäck am Straßenrand und bereiten sich auf die Migration nach Indien vor.
Auf der Suche nach einem besseren Leben machen sich viele Nepalesen auf den Weg nach Indien. Die Migration ist jedoch nicht ohne Risiko. © Thibault Gregoire

Lal Bahadurs Tageslohn reicht nicht aus, um seine Familie angemessen zu ernähren. Wie viele andere Nepalesinnen und Nepalesen hat er sich entschieden, Arbeit im Ausland zu suchen. Während der Zeit des Bürgerkriegs von 1996 bis 2006 war die Auswanderung besonders hoch. Die Regierung erkannte die Abwanderung der Arbeitskräfte damals noch nicht als wichtiges wirtschaftliches oder soziales Phänomen.

Die Auswanderung birgt ausserdem ein grosses Risiko, dem sich auch Lal Bahadur ausgesetzt sah. Als er auf Jobsuche war, lernte er eine Person kennen, die ihm eine Stelle als Wachmann in den Vereinigten Arabischen Emiraten anbot. Er freute sich über das Angebot, nahm alle Ersparnisse seiner Familie, um den Bewerbungsprozess zu finanzieren, und flog 2020 nach Abu Dhabi. Doch niemand holte ihn am Flughafen ab. Er steckte fest, musste betteln und mehrere Nächte auf der Strasse verbringen. 

Glücklicherweise hat sich die Haltung der nepalesischen Regierung gegenüber der Arbeitsmigration im Verlauf der letzten zehn Jahre geändert. Sie anerkennt nun die Bedeutung der Migration für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Lal Bahadur wurde schliesslich vom Safer Migration Project (SaMi) unterstützt, einem der mittlerweile geschaffenen Hilfsprogramme für Migrantinnen und Migranten. Seit 2011 unterstützt die DEZA die nepalesische Regierung bei der Förderung einer sichereren Migration: Das Risiko von Ausbeutung soll verringert und das Informations- und Weiterbildungsangebot namentlich vor der Ausreise ausgebaut werden.

Im Zuge der Konsolidierung des föderalen Staates Nepal leistet die Schweiz wie beim Brückenbau vermehrt systemische Unterstützung. Die Schweiz engagiert sich weiterhin im Bereich der Migration und wird sich in den kommenden Jahren vermehrt für eine Institutionalisierung der Unterstützung für Wanderarbeitskräfte und ihre Familien einsetzen. Zudem wird sie sich für eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Wiedereingliederung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten stark machen, damit deren Beitrag zum lokalen Wirtschaftswachstum besser genutzt und wiederholte Migrationszyklen vermieden werden können.

So engagiert sich die DEZA nachhaltig für sichere Migrationsströme, sowohl bei der Ausreise als auch bei der Rückkehr.

Schweiz und Nepal: Auf dem Weg zum Föderalismus

2015 gab sich Nepal eine neue, föderale Verfassung. Dabei wurden 753 Lokalregierungen und 7 Provinzen neu gebildet. Bei den Wahlen von 2017 wurden Tausende Nepalesinnen und Nepalesen mit unterschiedlichem sozialem und wirtschaftlichem Hintergrund neu in öffentliche Ämter berufen. Bei der Errichtung dieser neuen Regierungsform übernahm die Schweiz eine Vorbildfunktion.

Dennoch stellt die Schaffung einer politischen Kultur, die sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert, ebenso eine kontinuierliche Herausforderung dar wie das Funktionieren des neuen föderalen Systems. Die Schweiz hat ihre Entwicklungszusammenarbeit zwecks Erhalt der Wirksamkeit an die neue nepalesische Realität angepasst und verfolgt bei ihren Unterstützungsbemühungen vermehrt einen systemischen Ansatz.

Dieser Ansatz basiert auf dem langjährigen Ruf, den Fähigkeiten und den Netzwerken der Schweiz in Nepal und berücksichtigt die sich verändernden Rahmenbedingungen. Er ist auf die Transformationsprozesse Nepals ausgerichtet und bezweckt eine Verbesserung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wohlergehens der lokalen Bevölkerung in einem inklusiven und verantwortungsvollen Bundesstaat. Dies zeigt sich heute insbesondere in einem starken Engagement der DEZA für die Verbesserung des unternehmerischen Umfelds. Darüber hinaus unterstützt die Schweiz KMU aus dem Agrar-, Ernährungs- und anderen Sektoren im Bereich der Innovation sowie beim Zugang zu Finanzmitteln. 

Über das Modell der Berufslehre wird auch die Entwicklung beruflicher Qualifikationen gefördert, insbesondere bei jungen Frauen und Männern aus benachteiligten Bevölkerungsgruppen. Die Schweiz versucht, grosse und kleine Unternehmen in dieses Modell einzubinden. Dank den spezifischen Lerninhalten dieser Ausbildungskurse können die Nepalesinnen und Nepalesen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern und ein höheres Einkommen erzielen.

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