«In den ersten Monaten bauten wir 240km Strasse wieder auf»

Artikel, 22.04.2016

Das Erdbeben vom 25. April 2015 im Himalayagebiet hat über 5 Millionen Nepalesinnen und Nepalesen direkt betroffen. Heute blickt der Schweizer Botschafter in Nepal, Urs Herren, auf ein Jahr des Wiederaufbaus zurück. Das langjährige Engagement der Schweiz in Nepal kam dabei zu tragen. Die professionelle Hilfe wird gemeinsam durch die Botschaft, das Kooperationsbüro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und erfahrenen Schweizer Fachpersonen während gezielten Einsätzen gewährleistet.

Der Schweizer Botschafter in Nepal Urs Herren
Der Schweizer Botschafter in Nepal Urs Herren

Das Erdbeben vom 25. April 2015 und mehrere Nachbeben haben im Himalayagebiet verheerende Schäden verursacht.  Fast 9000 Personen starben, und mehr als 500‘000 Häuser wurden zerstört. Insgesamt waren 5,4 Millionen Nepalesinnen und Nepalesen vom Erdbeben direkt betroffen. Neben den lokalen logistischen und koordinativen Herausforderungen, welche Botschafter Urs Herren und sein Team zu meistern hatten, musste grossflächig Nothilfe geleistet werden. Dafür traf kurz nach dem Beben ein Soforteinsatzteam aus der Schweiz auf dem Botschaftsgelände ein, um von dort aus seinen Einsatz zu organisieren. Die Phase der Nothilfe wurde nach einigen Wochen beendet. Dank der langen Präsenz und guten Vernetzung der DEZA konnte der Wiederaufbau rasch aufgenommen werden.  Die Schweiz hat insgesamt 25 Millionen CHF für verschiedene Wiederaufbau-Projekte eingesetzt.

Botschafter Urs Herren, wie geht es Ihnen und Ihrem Team ein Jahr nach dem Erdbeben? Haben Sie wieder einen mit der Zeit davor vergleichbaren Arbeitsalltag?

Wir mussten nach dem Erdbeben aus dem beschädigten Kanzleigebäude ausziehen. Drei Wochen später waren wir aber an unserem Ausweichstandort wieder voll operationell. Die Erfahrung und neue Arbeitssituation mit weniger Platz hat das Team zusätzlich zusammengeschweisst. Mit der Planung und Lancierung der zusätzlichen Aktionen der Nothilfe und des Wiederaufbaus wurden wir letztes Jahr gefordert.

Sie waren mit Ihrem Krisendispositiv gut eine solche Katastrophe vorbereitet. Gibt es trotzdem Dinge, welche Sie verbessern möchten?

Die Krise hat bestätigt, dass unser Dispositiv solid ist. Wir haben aber Lehren aus dem Krisenmanagement gezogen und weitere Verbesserungen gemacht, zum Beispiel um unsere Internetverbindung auch dann zu sichern, wenn das normale Netz ausfällt.

Die Humanitäre Hilfe der DEZA hat die Botschaft und Partnerorganisationen mit Secondments im Wiederaufbauprozess unterstützt. Wie funktioniert das genau?

Die Schweiz verfügt mit dem Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe über ein aussergewöhnliches Instrument, um schnell Fachleute zu mobilisieren. Die Wirksamkeit unserer Hilfe hat sehr stark von der raschen Unterstützung der Botschaft und wichtiger internationaler Organisationen durch gezielte Einsätze von erfahrenen Schweizer Fachpersonen profitiert. Im Moment erlaubt uns das Secondment einer Schweizer Expertin zum Beispiel, das wichtigste Programm von Regierung, Weltbank und weiteren Gebern  für den Wiederaufbau von Privathäusern zu stärken und so zu beeinflussen, dass die Hilfe auch benachteiligten Gruppen (z.B. ethnischen Minderheiten, unteren Kasten oder alleinerziehenden Müttern) zu Gute kommt. 

Wie sind Sie bei der Planung des Schweizer Wiederaufbauprogramms vorgegangen?

Wir haben unsere Aktionen weitgehend auf existierenden Programmen, vorhandenem Personal und etablierten Partnerschaften aufgebaut, insbesondere im Strassen und Brückenbau, der Landwirtschaft und der Berufsbildung.

Konnte die beschädigte Infrastruktur wie etwa Brücken und Strassen in den 14 betroffenen Distrikten bereits instand gesetzt werden?

In den ersten Monaten konnten wir 240km Strassenverbindungen wieder herstellen. Unterdessen sind zwei strategisch wichtige Strassenbrücken sowie ein Teil der 90 beschädigten Hängebrücken repariert; bis Ende Jahr werden alle wiederhergestellt sein.

Unter anderem hilft die DEZA mit, Maurer im erdbebensicheren Bauen auszubilden. Wie viele Maurer wurden ausgebildet?

Dank einer Aufstockung eines existierenden Berufsbildungsprogramms um 2,5 Millionen CHF können wir mehr als 3‘000 junge Leute in erdbebensicheren Bautechniken ausbilden. Die Ausbildungsgruppen bauen direkt neue und sichere Häuser. Über  150 sind bereits fertiggestellt und dienen auch als Modell für erdbebensicheres Bauen.


Mit einem Programm haben Sie Saatgut an Bauern verteilt. Wie ist die Ernte geworden?

Wir haben auch hier auf eine langjährige Partnerschaft mit lokalen NGOs aufgebaut, um Bauern mit Saatgut zu versorgen, wenn sie dieses während des Erbebens verloren hatten. Hier zeigte sich erneut, dass kleine aber gezielte Massnahmen (Saatgut im Wert von rund 25 CHF pro Familie) ein entscheidender Beitrag sein können, um den Familien einen Neustart zu erlauben. 

Wie kommt der Wiederaufbau der Tempelanlagen in Dolakha voran?

Die Zerstörung von wichtigen alten Tempeln und Heiligtümern ist für viele Hindus und Buddhisten emotional schwierig. Wegen derer symbolischen Bedeutung, haben wir deshalb entschieden, im Distrikt Dolakha zwei wichtige Heiligtümer wieder aufzubauen. Die Pläne für eine sorgfältige und denkmalschützerisch korrekte und gleichzeitig erdbebensichere Rekonstruktion sind nun bereit, so dass die Arbeiten in den nächsten Wochen beginnen können. 

Nach Katastrophen zeigt sich die Koordination zwischen nationalen und internationalen Akteuren jeweils als schwierig. Wie ist dies in Nepal?

Die Entwicklung einer systematischen und klaren Wiederaufbaupolitik und die Koordination aller Akteure ist auch in Nepal eine grosse Herausforderung. Unterdessen ist deutlich geworden, dass die Koordination der Nothilfe im Vergleich zu anderen Katastrophen gut funktioniert hat. Was den Wiederaufbau betrifft, so hat sich leider die Gründung der «National Reconstruction Authority» angesichts der politischen Krise rund um die Verabschiedung der neuen Verfassung verzögert. Sie hat nun ihre Arbeit aufgenommen. Ausreichend gut koordinierte Wiederaufbauprogramme für Privathäuser, Schulen und öffentliche Gebäude beginnen zu greifen. Die Auszahlung einer ersten Tranche der beschlossenen Subventionen für den Wiederaufbau zerstörter Privathäuser von rund 2‘000 CHF pro Haus steht unmittelbar bevor.

 

Nach Protesten innerhalb Nepals hat eine Blockade an der Grenze die Situation im Land zwischen September 2015 und Februar 2016 verändert. War diese Blockade auch für die DEZA spürbar?

Die Versorgungsprobleme waren in allen Lebensbereichen massiv. Alle Programme der DEZA hatten insbesondere mit Treibstoffmangel zu kämpfen, so dass viele Aktivitäten eingeschränkt werden mussten. Seit Mitte März hat sich die Lage aber normalisiert und unsere Partner und wir versuchen, die Verzögerungen so gut als möglich wettzumachen.

 

Wie schätzen Sie die heutige Lage in den betroffenen Regionen ein?

Die Lage ist für die Bevölkerung in den am meisten betroffenen Gebieten weiterhin schwierig, aber nicht katastrophal. Ein Grossteil der Betroffenen hat unterdessen temporäre Unterkünfte bauen können, die genügend solid sind, um ab Juni durch die Monsunperiode zu kommen. Die Landwirtschaft ist für die nächste Anbauperiode ausreichend gerüstet. Das eben begonnene Schuljahr wird aber für viele Kinder schwierig werden, da die provisorischen Räumlichkeiten vieler Schulen keinen normalen Schulalltag erlauben werden.